Das große Schaumbad

Dimiter Gotscheff inszeniert an der Volksbühne „Das große Fessen“, erst mit Joghurt, bald mit Broilern – und nah dran an dem Kultfilm von Marco Ferreri. Es gibt nur sehr viel mehr Schaum

VON ESTHER SLEVOGT

Die Idee ist geradezu zwingend. Als Bild für die Völlerei und den erstickenden Überfluss haben Dimiter Gotscheff und seine Bühnenbildnerin Katrin Brack für ihre Volksbühnen-Adaption des berühmten Siebzigerjahre-Skandalfilms „Das große Fressen“ enorme Schaummassen gefunden. Sie quellen aus dem Boden oder stürzen in dekorativen Kaskaden immer wieder vom Bühnenhimmel auf die leer geräumte Bühne, wo sich die Schauspieler bald nur noch rutschend und schlitternd vorwärts kämpfen können. Der Schaum fließt dann träge am Bühnenrand herab Richtung Zuschauerraum und erinnert an das Grimm’sche Märchen „Der süße Brei“, in dem ein hungriges Kind einen Kochtopf geschenkt bekommt, in dem auf Zuruf Brei zu kochen beginnt, der dann alles überflutet, als dem Kind das Zauberwort nicht mehr einfällt, um die Produktion zu stoppen.

Im Verlauf des gut zweistündigen Abends entstehen aber auch Assoziationen an die Geschichte vom Schlaraffenland, wo man sich erst durch eine Breiwand fressen musste, um ins Paradies zu gelangen. Im vorliegenden Fall ist dieses Paradies der Tod, und vier Männer fressen, furzen und vögeln sich von Menü zu Menü immer tiefer in seine Richtung, um am Ende ziemlich elend am Zusammenbruch ihrer Körperfunktionen zu verrecken. So will es Marco Ferreris Plot von 1973. Und so will es auch Dimiter Gotscheff.

Bei Ferreri sind es Michel (Piccoli), Marcello (Mastroianni), Philippe (Noiret) und Ugo (Tognazzi), die immerhin noch mit höchster Lust an den dekadenten bürgerlichen Formen ihren eigenen Untergang zelebrieren. Bei Gotscheff haben wir es mit Milan (Peschel), Herbert (Fritsch), Marc (Hosemann) und Samuel (Finzi) zu tun. Allerdings sind sie trotz ihrer bürgerlichen Klarvornamen nur wenig variierte Abziehbilder ihrer Filmvorbilder.

Alles beginnt wie im Film. Erst lernt man den Koch (Milan), dann den Fernsehregisseur (Herbert) kennen, der sogar den gleichen pinkfarbenen Pulli wie Michel Piccoli trägt. Dann kommen Marc (Hosemann) und Samuel (Finzi) und zu viert fährt man also in die alte Villa am Stadtrand, dem Schauplatz des geplanten Exzesses: Vier Stühle werden zu diesem Zweck auf der Bühne wie Autositze angeordnet, und die vier Männer spielen laut brummend und gestikulierend „Autofahren“. Szene für Szene arbeitet sich Gotscheff so durch den Film, beziehungsweise das deutsche Dialogbuch von Rainer Brandt, bis naturgemäß alles wie im Film endet: Bizarr haben sich die Männer zu Tode gefressen und Almut (Zilcher), die Frau, die in diesem grotesken Bacchanal als mütterlich-sinnliche Sterbehelferin fungierte, geht fort. Irgendwann haben schon drei Huren den Schauplatz verlassen, weil sie dieses sinnlose Fressen nur noch zum Kotzen fanden.

Denn Gefressen wird auch bald in Gotscheffs Ferreri-Adaption, und zwar nicht zu knapp. Am Anfang zunächst noch Obst, Gemüse und Billigjoghurt, sozusagen die Aldi-Diätvariante der Luxusorgie im Film, dessen üppig angerichtete Menüs einst vom Pariser Gourmettempel Fouchon geliefert worden waren. Deswegen werden bei Gotscheff bald auch so sinnlose Requisiten wie Kühlschrank, Einkaufswagen und Herd nötig. Bald steigert sich der Fressinput mit Pürees, Grillhähnchen und andere Schweinereien in Regionen schwerer Verdaulichkeit. Bei so penibler Werktreue ist die stupende Abstraktionskraft des Bühnenbilds dann schnell verblasst und verkommt als Riesenrutschbahn für Schauspieler schließlich zum, wenn auch spektakulär anzuschauenden, Theaterspaß. Insgesamt wirkt der Abend nicht zu Ende gedacht.

Trotzdem gibt es immer wieder irrlichternde Momente: Anne Ratte-Polles als am eigenen Lebenshunger erstickende junge Hure. Samuel Finzis sprödes Porträt eines verklemmten Romantikers, der wenigstens im Sterben einmal das Leben spüren will. Almut Zilcher als mütterliches Monster, Herbert Fritsch als schräger Dandy und Michael Knobe als schrilles Faktotum. Oder der virtuose Milan Peschel, der vor dem großen Sterben am Schluss plötzlich anfängt, all den Requisitenüberfluss an Essensabfällen, Tellern und Schüsseln in den Zuschauerraum zu entsorgen, um mit einiger Verzweifelung wieder für jene Klarheit zu sorgen, die als großes Versprechen am Anfang dieses Abends stand – als die Bühne noch kahl und leer gewesen war.

Weitere Vorstellungen: 29. April und 5., 13., 20. Mai, dann (so viel Schaum kostet!) erst wieder nächste Spielzeit