: Radikale Vereinfachung von Wirklichkeit
RECHTSPOPULISMUS Totengräber oder Türöffner der Demokratie – eine Tagung der Böll-Stiftung in Berlin
Ist der Rechtspopulismus „eine Chance“ für Mittelosteuropa? Auf der Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung Brandenburg zum Thema „Rechtspopulismus in Mittelosteuropa – Demokratien im Umbruch“, zu der am Dienstag neben einem Dutzend Referenten aus verschiedenen europäischen Ländern um die 40 Zuhörer nach Potsdam gekommen waren, wurde dies lebhaft diskutiert. Der Sozialpsychologe Klaus Bachmann erklärte diese These mithilfe des Modells vom „populistischen Zyklus“, demzufolge in Krisenzeiten aus Verunsicherung und Angst um die eigene Perspektive die Forderung nach einem repressiven Staat werde, die im Rechtspopulismus und abschließend in einer größeren Zustimmung zum demokratischen System münde. Den Rechtspopulismus als vorübergehende Erscheinung zu betrachten, war – angesichts der über Jahre andauernden zweistelligen Wahlerfolge in Belgien, der Schweiz, Norwegen oder Ungarn – unter den Referenten durchaus umstritten.
Aus dem Establishment
Schnell wurde klar, dass weder eine brauchbare Definition zur Hand war noch Einigkeit über die Bedeutung – etwa als Gefährdung, Teil oder „Türöffner“ der Demokratie. Der Wirtschaftsrechtler Hans-Gerd Jaschke beispielsweise charakterisierte den Rechtspopulismus als Polarisierung zwischen „dem einfachen Volk und denen da oben“, der die Utopie einer – zerstörten – naturwüchsigen Gemeinschaft aufruft und die Wirklichkeit radikal vereinfacht.Durch eine Reihe von Haarspaltereien, etwa darum, ob die Fidesz-Partei, die jüngst eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament errang, wirklich als rechtspopulistisch gelten könne, kamen die Einblicke in den Zustand der politischen Kultur Europas fast zu kurz. Pierre Kende, Mitglied in der ungarischen Akademie der Wissenschaften, wurde dagegen erfreulich konkret.
Ein „politischer Krieg und Kulturkampf“ sei nicht nur wegen des Wahlerfolgs der rechtsextremen Jobbik zu fürchten, schließlich könne Fidesz auch allein tiefgreifende Verfassungsänderungen durchsetzen. Darauf, dass dies auch passieren werde, deute nicht zuletzt die „nationalistische Wende der Gesellschaft“, für die Fidesz-Chef Viktor Orban nach 1989 als Wortführer fungiere. Mute der Irredentismus der Partei noch „komisch“ an, sei es mit dem Rassismus ernst. Mit Verweis auf die erschreckende Hetze des politischen Establishments gegen ungarische Roma stellte er klar: „Sämtliche Mord- und Brandanschläge entstanden aus diesen Anregungen.“
Keine Randerscheinung
So wurde ein Problem deutlich: Der Konferenz ging es weniger um die Stereotypisierung und existenzbedrohende Ausgrenzung als Maß des Rechtspopulismus, sondern um dessen Haltung zum demokratischen System. Ohne es zu wollen, machte Peter Siller mit seiner Aussage, Populismus sei „die Grundlage der Demokratie“, auf die fatale Fehleinschätzung aufmerksam.
Deutschland gilt als Gesellschaft ohne rechtspopulistische Bewegung, in der sich etwa 15 Prozent potenziell rechtsextreme Wähler mehrheitlich nicht auf die NPD, sondern auf das gesamte Parteienspektrum verteilen. Betrachtet man sie so als Bestandteil der politische Mitte, aus der heraus Vizekanzler Guido Westerwelle gegen ALG-II-Empfänger hetzt oder Ministerpräsident Jürgen Rüttgers „Kinder statt Inder“-Kampagnen betreibt, kann der Rechtspopulismus kaum als Randerscheinung, als spezifisch osteuropäisch, undemokratisch oder zeitlich begrenzt gelten.
Der Rechtspopulismus als Chance für ein besseres Miteinander? Konferenzteilnehmer bezweifelten dies vehement. Seit Jahren griffe „die Mitte“ seine Losungen auf, würden Grund- und Minderheitenrechte beschnitten und die Migrationspolitik deutlich verschärft. SONJA VOGEL