„Wir haben nicht das Recht, jemanden zu verurteilen, der sterben will“

ALTERSDEPRESSION Menschen ab 80 nehmen sich wesentlich häufiger das Leben als jüngere, und Männer öfter als Frauen. Manchmal hilft die Vergabe von Medikamenten, es treten aber häufiger Nebenwirkungen auf als bei jungen Menschen. Das Pflegepersonal ist auf die Situation nur unzureichend vorbereitet – und wird überdurchschnittlich häufig selbst depressiv

Ein Ehepaar lebt zufrieden im Altenheim. Kurz nach der Goldenen Hochzeit stirbt der Mann. Seine Frau zieht sich zurück und bittet das Pflegepersonal um Tabletten für einen Suizid. Als darauf nicht eingegangen wird, reagiert die 78-Jährige immer aggressiver. Sie kommt in eine psychiatrische Klinik, aus der sie nach einigen Wochen ins Heim zurückkehrt. Sie scheint wieder die Alte zu sein – bis sie sich drei Wochen nach ihrer Rückkehr vor den Zug wirft.

Es ist ein Fall aus der langjährigen Berufspraxis von Bettina Dreyer, die seit drei Jahren den Pflegedienst im Ludwig-Steil-Hof im nordrhein-westfälischen Espelkamp leitet. „Unser Team war über ihren Tod schockiert. Wir haben uns gefragt, was wir falsch gemacht haben“, sagt Dreyer, eine der ReferentInnen bei der Tagung „Altersdepression und Suizidalität“ der Evangelischen Akademie Loccum.

Suizid: Ein Thema, auf das laut Dreyer das Pflegepersonal nicht vorbereitet ist und das in der täglichen Arbeit oft ein Tabu ist. „Hilferufe sind oft nur schwer zu erkennen, und wir haben zu schnell Lösungen an der Hand, weil wir das so gewöhnt sind. Wir reagieren verunsichert und oft mit Ablehnung. Es ist schwer, eine aggressive Haltung eines Menschen nicht persönlich zu nehmen“, sagt Dreyer.

Der von ihr geschilderte Fall war Anlass, zusammen mit anderen Heimen Leitsätze für den Umgang mit solchen Situationen zu entwickeln. Dazu gehört die Verpflichtung der Pflegerinnen, keine aktive Hilfestellung zu geben, wenn Bewohner sich das Leben nehmen wollen. Und dazu gehört, jeden Hinweis auf Suizid-Absichten ernst zu nehmen und sich klarzumachen, wann Menschen besonders suizidgefährdet sind – etwa nach dem Tod eines nahestehenden Menschen oder bei zunehmender Gebrechlichkeit.

Nach aktuellen Zahlen der Initiative „Nationales Suizidpräventionsprogramm in Deutschland“ haben sich 2011 in Deutschland 10.144 Menschen das Leben genommen, davon 7.646 Männer. Laut Reinhard Lindner, Oberarzt in der medizinisch-geriatrischen Klinik Albertinen-Haus in Hamburg, ist bei Männern ab 80 Jahren die Suizidrate fünfmal höher als bei Männern anderer Altersgruppen.

Aber auch jede zweite Frau, die sich in Deutschland das Leben nimmt, ist über 65. Auslöser seien schwere Erkrankungen, Isolation, Kränkungen und Verluste sowohl von Menschen als auch der eigenen Leistungsfähigkeit. Die Ursache seien manches Mal Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugend, die nicht bewältigt worden seien: Vergewaltigungen oder Kriegserlebnisse.

„Die psychologische Versorgung älterer Menschen ist absolut unzureichend. Die Folgen sind entsetzlich, denn die Alten werden mit ihren Ängsten alleine gelassen“, sagt Oberarzt Lindner, der sich auf die Psychotherapie von Senioren spezialisiert hat.

Wenn jemand um Tabletten für einen schnellen Tod bittet, dann sollte man nach den Gründen für den Wunsch fragen und auch auf feine Unterschiede achten, sagt Lindner. Wenn eine alte Frau zum Beispiel sagt: „Ich bete jeden Abend darum, dass ich morgen nicht mehr aufwache“, dann spreche das mehr für Lebenssattheit ohne Selbstmordabsicht.

Medikamente mit Nebenwirkungen

Marion Diekmann besucht als Psychiaterin an der Wunstorfer Klinik für Gerontopsychiatrie regelmäßig Heime in und um Hannover. Sie hat dabei oft mit depressiven Senioren zu tun – jeder Vierte im Altenheim hat inzwischen ein depressives Begleitsymptom. In schwereren Fällen können laut Diekmann neben Gesprächen auch Medikamente helfen. Dabei komme es bei älteren Menschen häufiger als bei jüngeren zu Nebenwirkungen, was oft zum Abbruch der Einnahme führe. „Erst nach drei bis sechs Wochen kann man beurteilen, ob ein Antidepressivum wirkt, vorher sollte man es nicht absetzen“, sagt Diekmann.

Die Ärztin kritisiert die häufige Verordnung von Tranquilizern durch Hausärzte. „Man erzielt dadurch schnell eine kurzfristige Entlastung, ohne an den Ursachen etwas zu verändern.“ Außerdem brauche man immer höhere Dosen, was letztlich zur Abhängigkeit führen könne. Außerdem steige durch die Muskelentspannung das Sturzrisiko. Diekmanns Tipp: „Bewegung ist für Depressive wichtig. 20 Minuten an der frischen Luft sind sehr wirksam. Hauptsache, raus aus der eigenen Bude.“

Ein Ratschlag, den die Delmenhorster Selbsthilfegruppe Relax aufgenommen hat. Dort treffen sich freitags und samstags Menschen mit Angststörungen und Depressionen, um freie Zeit miteinander zu verbringen. „Wir trinken gemeinsam Kaffee, und ich erzähle, was so in der Gegend los ist. Dann entscheiden wir, ob wir ins Kino gehen, kegeln oder ein Video anschauen wollen. Das Wichtigste ist, dass die Leute so aus ihrem Stinkstall rauskommen“, berichtet Peter Willsch, Mitglied der Selbsthilfegruppe.

Jeder der insgesamt 30 Teilnehmer der Delmenhorster Gruppe war wegen psychischer Probleme schon in einer Klinik. Die meisten sind Rentner, viele leben allein und können sich aus eigenem Antrieb nur schwer zu Aktivitäten aufraffen.

Auffällig bei „Relax“ ist der hohe Anteil gelernter Altenpfleger. Expertin Bettina Dreyer wundert das nicht: „Die Suizidrate bei Pflegefachkräften ist sechsmal höher als im Schnitt. Wir müssen viel häufiger darüber sprechen, dass uns extreme Situationen in den Heimen wie Suizide an unsere Grenzen bringen, die wir zu oft nicht beachten. Diese Offenheit ist nicht einfach“, sagt die Pflegedienstleiterin.

Ein Suizid könne jeden Tag in jeder Einrichtung passieren, sagt Dreyer. Wer darauf nicht vorbereitet sei, den haue das um. Wichtig sei es, in schwierigen Fällen Hilfe von außen etwa in Form von Supervision anzubieten. Moralische Kritik an einer Selbsttötung lehnt sie ab: „Die Freiheit des Menschen steht am höchsten. Wir haben nicht das Recht, jemanden zu verurteilen, der nicht mehr leben will.“JOACHIM GÖRES