Ausgestorben, aber im Bild festgehalten

POMOLOGIE 649 Apfelsorten und 289 Birnensorten malte Dorfpfarrer Korbinian Aigner in seinem langen Leben: durchnummeriert auf Papier und Pappe, fast immer in Originalgröße. Die gemalte Kartei wird heute noch verwendet. Nun ist sie als Buch erschienen

20.000 verschiedene Apfelsorten gab es in Europa. Heute sind es noch rund 1.500

VON MICHAEL PÖPPL

Manche Kindheitsgerüche vergisst man nie: Die olfaktorische Vielfalt zum Beispiel, die im Bauernhof am Rand der Neubausiedlung zu erforschen war, vom strengen Stallmist der Kühe über das frischgetrocknete Gras im Stadel bis zu dem Wohlgeruch des kühlen Apfelkellers, wo die Herbsternte in Holzkisten gestapelt den Winter verbrachte. Manche der Winteräpfel waren schon etwas runzlig oder leicht angeschlagen, die landeten dann im Kompott oder bei den Ferkeln. Manchmal auch in unseren Kindermägen, Äpfelklauen war immer geduldet. Und Äpfel duften ganz unterschiedlich, das lernten wir, ebenso unterschiedlich wie sie schmecken. Die Vielfalt schien unergründlich, manche der Früchte aus dem alten Obstgarten taugten auch nur als Mutprobe, die anschließend zu Dünnpfiff führte. Heute steht da, wo der fiese Holzapfelbaum war, eine Doppelgarage.

Auch wenn manche Äpfel auch heute noch gut riechen: Die Vielfalt ist wohl für immer dahin. Die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Globalisierung des Geschmacks verstärkte die Konzentration der Obstbauern auf wenig schädlingsanfällige und leicht zu züchtende Äpfel. Die fünf oder sechs verschiedenen Apfelsorten, die man heute in den meisten Lebensmittelläden findet, sind „Tafeläpfel“, die dem Konsensgeschmack am nächsten kommen: Granny Smith, Braeburn, Elstar, Cox, Delicius, manche sind fester, manche mürber, manche süßer, manche saurer, das war es dann aber schon. Meist sind diese Äpfel langjährige Züchtungen, die vor allem Haltbarkeit und gutes Aussehen garantieren.

Bis Ende des 19. Jahrhunderts zählte die Pomologie, die Lehre von den Obstsorten, 20.000 verschiedene Apfelsorten in Europa. Heute gibt es noch rund 1.500, nur um die 60 Sorten werden heutzutage landwirtschaftlich genutzt. Einer, der sich der Apfelvielfalt widmete, war Korbinian Aigner, ein Dorfpfarrer im niederbayrischen Hohenpolding. Ihm ist ein wunderbares Buchprojekt zugeeignet, das die Schriftstellerin Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe“) in diesem Jahr herausgegeben hat. „Äpfel und Birnen“ heißt der prächtige Wälzer, in dem sämtliche pomologischen Zeichnungen des „Apfelpfarrers“ versammelt sind. Das Sammelsurium wunderbarer Stillleben, die jedes Obst von Ober- und Unterseite abbildet, war auch auf der Dokumenta 13 zu sehen, ein eigenartig berührendes Gesamtkunstwerk. 649 Apfelsorten und 289 Birnensorten malte Aigner in seinem langen Leben: Durchnummeriert auf Papier und Pappe, fast immer in Originalgröße, eine Kartei der Pomologie, die teilweise heute noch verwendet wird, um seltene Apfelsorten zu illustrieren. Allein die Formen- und Farbenvielfalt ist beglückend: große, kleine, runde, längliche, blass- und tiefrote, manchmal auch quittengelbe Früchte, matt oder glänzend, manche mit Furchen wie ein Kürbis, andere fleckig mit Pocken – keiner sieht genauso aus wie der andere. Und die Apfelnamen sind reine Poesie: „Weißer Winterkalvill“, „Rote Schafsnase“, „Rambur von Holzner“, „Finkenwerder Prinzenapfel“, sogar „Demokrat“ nennt sich eine alte Apfelzüchtung. Könnte sich das auf die bürgerliche Bewegung von 1848 beziehen? Manche Bezeichnungen machen neugierig: Welche Geschichten stecken hinter den Namen? Ist der „Eberfinger Madgalenenapfel“ eventuell der heiligen Magdalena geweiht? Und wer ist „Williams Liebling“?

Korbinian Aigner hat es wahrscheinlich gewusst. Während des Theologiestudiums besuchte der 1885 geborene Großbauernsohn auch Landwirtschaftskurse, damals Bestandteil des kirchlichen Studiums, Klöster waren viele Jahrhunderte lang führend in der Obstzucht. Weil Aigner sich wohl mehr der Pomologie als seinen Schäfchen widmete, war er dem erzbischöflichen Ordinariat früh schon ein Dorn im Auge. Eine eigene Pfarre erhielt er erst mit 46 Jahren. Auch mit dem Zölibat soll er es nicht so genau genommen haben, erzählt die Wissenschaftshistorikerin Julia Voss im spannenden Vorwort. Sind Aigners Äpfel vielleicht doch eine Hommage an die verbotenen Früchte des Paradies?, spekuliert sie. Oder dienten sie dem streitbaren Pfarrer, der wegen nazikritischer Äußerungen im Arbeitslager landete, allein als Anschauungsmaterial für seine Obstbauern, mit denen er neue Züchtungen plante. Sogar im Konzentrationslager Dachau ließ Korbinian Aigner die Liebe zum Obst nicht los. Mit eingeschmuggelten Apfelsamen züchtete er drei neue Sorten, die er KZ 1-3 nannte, und die, wie er selbst, das Lager überlebten. Aus einer von ihnen wurde nach seinem Tod 1966 der „Korbiniansapfel“, der „ein sehr guter Tafel- und Wirtschaftsapfel“ sein soll, „fein, saftig, gewürzt“. Gut sieht er aus. An dem würde man doch gerne einmal riechen – und dann reinbeißen.

Korbinian Aigner: „Äpfel und Birnen“. Hrsg. von Judith Schalansky mit einem Vorwort von Julia Voss. Matthes & Seitz Verlag 2013, Folioformat, fadengehefteter Halbleineneinband, 910 Abbildungen, durchgängig vierfarbig, 512 Seiten, 98 Euro