Berlin, Blicke

LITERATUR Der preisgekrönte Autor David Wagner veröffentlicht seine feuilletonistischen Berlin-Erkundungen von 2001 erneut – und versieht sie mit aktuellen Nachbetrachtungen und Fußnoten

VON JENS UTHOFF

Natürlich muss hier von Flanieren die Rede sein, schließlich soll es an dieser Stelle um David Wagners Berlin-Erkundungen gehen. Aber Flanieren, das hört sich gleich so gestelzt an, könnte man nicht einfach Spazierengehen sagen? Und sowieso, ist die Berlin-Flaniererei nicht langsam durch?

David Wagner spaziert nicht einfach nur durch die Gegend und schildert dann seine Eindrücke. Nein, Wagner seziert seine Umwelt, während er in ihr herumschwirrt; wie ein Schwamm saugt er alles auf. Liest man dann seine Texte, gewinnt man den Eindruck, er wringe diesen Schwamm so gründlich aus, dass in dem gerade noch triefenden Gewebe unmöglich noch Flüssigkeit verbleiben könne.

Wagner, Träger des Leipziger Buchpreises in diesem Jahr (für seinen autobiografischen Roman „Leben“, in welchem er sich mit seiner Krankheit, der Autoimmunhepatitis, auseinandersetzt), hat von 1999 bis 2001 Kolumnen und Feuilletons für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Tagesspiegel geschrieben. Erstmals erschienen sie in gesammelter Form 2001 im Nicolai Verlag („In Berlin“).

Wagner begeht in den Texten verschiedenste Berliner Bezirke und beschreibt darin in faszinierender Dichte Architektur und Natur, Mensch und Mauerwerk. Nun kann man in einer Neuausgabe des Verbrecher Verlags ein spannendes Experiment verfolgen: Die „alten“ Feuilletons werden vom Autor aktuell kommentiert – in Nachbetrachtungen und Fußnoten, die die fortschreitende Veränderung der Stadtteile genauestens beschreiben.

So sucht man mit Wagner all die Orte erneut auf, von denen man zumindest zum Teil glaubte, sie zu kennen: die Staatsbibliothek oder die Friedrichstraße, die Schönhauser oder das Ex’n’Pop, das Kino International oder die Torstraße. Oder aber es geht an abseitigere Orte wie die Wagenburg Lohmühle zur Dichterlesung.

Stabibesucher werden bei Wagner schon mal zu „Statisten einer Großinstallation“, die dortigen Lesesäle zum „Eheanbahnungsinstitut“ (auch die späteren Scheidungen verschweigt Wagner natürlich nicht).

Nahe dem Potsdamer Platz dann werden „Autos in den Tiergartentunnel versenkt“, wenige Meter weiter herrscht „Fußgängerfrieden“. Und wer, bitte schön, soll mit diesen „Stummelstraßen“ dort etwas anfangen?

Diese Stummelstraßen, zur Zeit der ersten Feuilletons noch im Werden, führen Wagner – inzwischen mit Tochter unterwegs – nun zum Sony Center. „Das viele Glas dieser Beeindruckungsarchitektur kann also noch beeindrucken, Kinder zumindest.“ In Nähe des baulichen Ungetüms fängt er dann doch mal ganz kurz an zu schimpfen – ganz wie Rolf Dieter Brinkmann es einst in seinen Erkundungen „Rom, Blicke“ tat.

Davon abgesehen aber überzeugt Wagners Stil durch lakonische Schlichtheit, vor allem durch Zurückgenommenheit. Die meist wenige Seiten umfassenden Texte sind sprachlich großartige Miniaturen, in denen Wagner vieles im Ungefähren lässt. Bei Peter Handke sprachen Literaturwissenschaftler mal von einem ersten, von einem eigentümlichen Blick, den er auf die Dingwelt und Umwelt warf.

Diese Perspektive, die eine von außen ist, pflegt auch Wagner. Wie aus dem Off wirft der Autor einen Blick auf die Stadt, die ihn seit seit den frühen 90ern, als er herzog, zum Denken anregt.

Und zwischendurch blitzt immer wieder ein dezenter Humor auf: Während er durch Moabit läuft, stellt der Stadtschreiber, sich vorsichtig in Richtung Bundeskanzleramt vortastend, fest: „Gleich dahinter ragen die Betonfertigteile der Mauer zum Garten des Bundeskanzleramtes auf. Schlecht informierte Besucher könnten sie leicht mit einem anderen, heute weitgehend verschwundenen, zu seiner Zeit aber weltbekannten Berliner Bauwerk verwechseln.“ Oder er berichtet von Häusern mit Satellitenschüsselbefall: „Wie schwere Akne überziehen sie die ganze Fassade.“

Zu den Umrissen der Ringbahn, die bekanntermaßen einem Hundekopf gleichen sollen, schreibt Wagner: „In China glaubte man früher, das Schicksal einer Stadt ließe sich aus der Form, die sie den Vögeln zeigt, ablesen. Welche Warnung hätte ein chinesischer Weiser aus dem Hundskopf gelesen, dessen Schnauze sich zwischen Westkreuz und Witzleben in den märkischen Sand legt? Hundejahre für die Stadt? Eine Stadt, die vor die Hunde geht?“ Wie einen sanften Mollakkord lässt Wagner seine Fragen ausklingen.

■ David Wagner: „Mauer Park“. Verbrecher Verlag, 234 S., 14 Euro

■ Lesungen: 4. 12., 20 Uhr, Brecht-Haus|, Chausseestraße 125, Mitte | 10. 12., 20 Uhr, Buchhandlung Neues Kapitel, Kopenhagener Str. 7, Prenzlauer Berg