: Späte Aufarbeitung
AUS SANTIAGO DE CHILE GERHARD DILGER
Wenn Außenminister Frank-Walter Steinmeier am Montag zu seinem ersten Staatsbesuch nach Chile kommt, geht es in erster Linie um gute Geschäfte. Neben Kulturschaffenden und zwei Bundestagsabgeordneten hat der Minister eine große Wirtschaftsdelegation im Schlepptau. Geplant ist auch ein Besuch des Friedensparks Villa Grimaldi. Auf dem Gelände wurden während der Pinochet-Diktatur (1973–1990) tausende Regimegegner gefoltert, darunter die heutige Präsidentin Michelle Bachelet.
Um das düsterste Kapitel der deutsch-chilenischen Beziehungen jedoch soll nach dem Willen beider Regierungen möglichst wenig Aufsehen gemacht werden: die Vorgänge in der 1961 gegründeten Deutschensiedlung Colonia Dignidad. „Die ehemaligen Siedler, die dort mit Psychopharmaka voll gestopft und mit Elektroschocks gefoltert wurden oder jahrzehntelang wie Sklaven geschuftet haben, warten noch heute auf eine Entschädigung“, sagt der Menschenrechtsanwalt Hernán Fernández, der in den letzten zehn Jahren 18 Opfer des Schreckensregimes von Sektengründer Paul Schäfer vertreten hat.
Seit seiner Festnahme im März 2005 sitzt der 84-Jährige Schäfer, der 1997 nach Argentinien geflüchtet war, in Untersuchungshaft. Monate später folgten seine Komplizen Hartmut Hopp, Karl van den Berg, Gerhard Mücke und Kurt Schnellenkamp, die Ärztin Gisela Seewald wurde vorgestern aus gesundheitlichen Gründen auf freien Fuß gesetzt. Wegen vielfachen Kindesmissbrauchs hat vor 14 Tagen die Beweisaufnahme gegen Schäfer begonnen.
Auch sonst ist Bewegung in die bislang zähe juristische Aufarbeitung gekommen: Außer Schäfer wurden am 10. April 13 weitere Exsiedler und vier führende Vertreter von Augusto Pinochets Geheimpolizei Dina angeklagt. Ihnen wirft Untersuchungsrichter Jorge Zepeda vor, eine kriminelle Vereinigung gebildet zu haben. Somit werden die teilweise seit Jahrzehnten dokumentierten Menschenrechtsverletzungen demnächst endlich vor Gericht verhandelt. Acht der Angeklagten halten sich jedoch im Ausland auf, Schäfers enger Mitarbeiter Albert Schreiber etwa wird in Deutschland vermutet.
In seiner Anklageschrift hat Zepeda das Kapitel über „erwiesene Tatsachen“ in fünf Punkte gegliedert (siehe rechte Spalte).
„Zepedas Anklage ist ein wichtiger Schritt nach vorne“, sagt Hernán Fernández, Anwalt und langjähriger Bauerngewerkschafter. „Vieles bleibt aber noch aufzuklären, und daran haben hierzulande zu viele einflussreiche Leute – bis in die Regierungsparteien hinein – kein Interesse.“ Seit Jahren verweist Fernández zudem hartnäckig auf die historische Mitverantwortung der deutschen Behörden.
Denn von Anfang an und bis weit in die Pinochet-Zeit hinein wurde die Colonia Dignidad von der deutschen Botschaft gedeckt. Dort schätzte man nicht nur das hausgemachte Schwarzbrot, sondern auch vermeintlich deutsche Tugenden wie Ordnung und Sauberkeit – und die stramm antikommunistische Ausrichtung der Siedlung. Pinochet und Dina-Chef Manuel Contreras waren gern gesehene Gäste in der Colonia. Ebenso CSU-Politiker, denen zu Ehre sie Schäfer in „Villa Baviera“, Bayerndorf, umtaufen ließ.
Erst 1985 gingen die Diplomaten auf Anweisung aus Bonn auf Distanz. Folgenlos blieb eine Anhörung im Bundestag 1988. Einen 13 Jahre später verabschiedeten Forderungskatalog über „Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad“ ignorierte die rot-grüne Bundesregierung weitgehend, der mit Vorbehalt beschlossene Fonds für Reintegrationsmaßnahmen wurde nie eingerichtet.
Seit 2004 haben rund 100 der ursprünglich rund 300 Kolonisten die Siedlung für immer verlassen. Zwei Drittel von ihnen gingen nach Deutschland. Die Hälfte der übrig Gebliebenen ist im Rentenalter, die 20- bis 40-Jährigen sind die leiblichen oder adoptierten Kinder der Gründergeneration und haben mittlerweile das Kommando übernommen.
Für die Betreuung der deutschen Staatsbürger der Kolonie finanziert die deutsche Botschaft drei Psychologen, die alle zwei Wochen für Gespräche bereit stehen. „Die Leute sind allesamt traumatisiert und leben bis heute in einer autoritären Struktur, einem psychotischen System“, sagt der Psychiatrieprofessor Niels Biedermann. Die meisten Kolonisten seien in „persönliche Loyalitäten verstrickt“, hat er beobachtet, die Grenze zwischen Opfern und Tätern sei fließend. „Für Veränderung wäre Konfliktbewusstsein nötig“, betont Biedermann.
Demnächst wird das Goethe-Institut ein musikpädagogisches Projekt starten, und für die religiöse Betreuung der SiedlerInnen sorgt ein evangelischer Pfarrer. Vor allem jedoch die Bemühungen des chilenischen Regierungsbeauftragten Herman Schwember, die heruntergewirtschaftete Siedlung wieder auf eigene Beine zu stellen, sollten einen Massenexodus verhindern, so die Hoffnung der deutschen Diplomaten.
Doch Schwember warf am Montag nach sechs Monaten das Handtuch. „Die Regierung hat keine Strategie, um den Opfern zu helfen“, begründete der 67-Jährige der taz gegenüber seinen Rücktritt. Mit einem „bemerkenswerten“ Schuldbekenntnis, das die Kolonisten letzte Woche veröffentlicht hatten, wollten sie in einen „Dialog mit der Gesellschaft in Chile und Deutschland“ eintreten, meint der zweisprachige Ingenieur, laut Fernández einer der wenigen Menschen, die überhaupt einen Zugang zu den Kolonisten fanden. Die Bewohner der Colonia Dignidad hatten vergangene Woche für „schreckliche Untaten“ um Vergebung gebeten. Die schlimmsten Vorwürfe hätten sich als wahr erwiesen und deshalb bekenne sich die Siedlung zu ihrer Verantwortung. „Viele Opfer, die ausreisen, um in Deutschland von der Sozialhilfe zu leben, werden als Zeugen in den kommenden Prozessen fehlen“, fürchtet der Anwalt Fernández.
Herman Schwember ist überzeugt: „Diese Menschen sind im wesentlichen Opfer.“ Sein Traum war es, dass durch die Zuwanderung neuer Kolonisten ein florierendes Bauerndorf entstehen würde. Dieses Szenario ist jetzt unwahrscheinlicher denn je.
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