Essen, streicheln, lecken

Haptisches Oraltheater: Beim zweiten Festival „Radikal jung“ im Münchner Volkstheater setzten vor allem junge Regisseurinnen mit ihren Arbeiten auf ebenso lust- wie körperbetonte Inszenierungen

Stellvertretend für das männliche Objekt der Begierde werden in „Dreckig tanzen“ Wassermelonen ausgenommen und gefressen

von SABINE LEUCHT

Also: Auch beim zweiten Mal erscheint es wieder unglaublich, dass noch keiner zuvor auf die Idee gekommen ist, ein Theaterfestival nur für junge Regisseure zu machen. Die Jugendlichkeitswelle ist an der alten Dame Thalia beileibe nicht vorbeigeschwappt, und doch blieb es dem eher kleinen und auch erst seit Christian Stückls Intendanz jugendverträglichen Münchner Volkstheater vorbehalten, vor einem Jahr ein Festival mit dem marketingstrategisch griffigen Titel „Radikal jung“ in die Welt gesetzt zu haben.

Eine bunte Woche lang hielt die Aufmerksamkeit nun an. Zu Recht: Schön war’s, weil manches wild war und einiges auch klug, was die acht eingeladenen Regisseure und Regiesseurinnen unter dreißig zu bieten hatten. Vor allem war jeder Abend immer sehr anders als der zuvor. Dass vier der Jungstars Frauen waren und sich dieser Text vor allem mit ihnen befassen soll, macht die Findung eines gemeinsamen Nenners nicht unbedingt leichter. Szenische Reduktion und das Thema Liebe meinte die Schauspielerin Annette Paulmann als Konstanten ausmachen zu können – das neue Jurymitglied zwischen Kilian Engels (Volkstheater) und dem Kritiker C. Bernd Sucher. Subjektiv und suchend statt ideologisch und formbewusst sei ihr Ansatz, war vom Achter-Podium der Regisseure und Regisseurinnen selbst zu vernehmen. Aber darauf hätten sich die Jungen von vor zwanzig Jahren wohl auch schon festnageln lassen.

Im Dunstkreis dieser subjektiven Suche bereinigte Lisa Nielebock also Sarah Kanes Tragödie „Phaidras Liebe“, gab Susanne Zaun auf den Kult um den Film „Dirty Dancing“ eine eigenwillige, kurze Antwort. Jorinde Dröse verhedderte sich leider im Machismo des Shakespeare’schen Komödienkosmos und Christine Eder ließ die Antigone des Sophokles einem reinen Männerchor gegenüber dickköpfig sein.

Über Dröse, diese sympathische Verfechterin des sportiv-emotionalen Wohlfühltheaters, muss man sagen, dass das am Münchner Volkstheater entstandene „Viel Lärm um nichts“ eine ihrer schwächsten Arbeiten ist. Voller alberner Männerrituale, aus denen aber immerhin das Bild von Benjamin Mährlein als Intrigant Don John herausragt, wie er rasend schnell Schokoküsse in sich hineinstopft und die Waffeln auf den Boden schmeißt: Die arrivierteste unter den vier Frauen, die regelmäßig auch in Hamburg inszeniert, schiebt hier dem ungezügelten Esser existenzielle Einsamkeit unter.

Bei Susanne Zaun, die mit ihrer ersten Regiearbeit „Dreckig tanzen“ gleich einen Hit landete, geht es um die Einverleibungswünsche der Liebe selbst. Zaun lässt ihre vier Darstellerinnen zeitgleich Wassermelonen aus hoch hängenden Netzen schneiden, dass sie saftig am Boden aufklatschen, um anschließend wollüstig ausgenommen und, ja, gefressen zu werden. Stellvertretend für das männliche Objekt der Begierde wurde den Früchten zuvor mit stierem Blick ein Bekenntnis dargebracht: „Ich war noch nie so glücklich wie mit dir.“ Eine Drohung! Die vier vom „Gießener Mädchenchor“ verlesen Fanbriefe, entlarven Phrasen, tanzen, ohne zu tanzen, und singen, ohne zu singen: Präzisionsarbeit macht’s möglich.

„Dreckig tanzen“ ist die eigenständigste Inszenierung des kleinen Festivals, genießbar auch von denen, die mit der Dechiffrierung der „Dirty Dancing“-Bezüge ihre Mühen haben, weil sie nie Fan waren. Entsprechend ging „Dreckig tanzen“ schon am Sonntag wieder auf Reisen – nach Offenbach, wo beim Festival Junger Talente weiter Melonen gegessen werden.

Überhaupt das Essen. Das Münchner Festival und mit ihm der Regienachwuchs scheint von diesem Thema nicht loszukommen. Während bei David Böschs Essener „Sommernachtstraum“ voller Horrorelemente böse knurrend Arme angeknabbert werden und ein wunderbarer Puck (Sarah Viktoria Frick) an nackten Bäuchen leckt, begnügen sich Antigone und ihre Mannen mit Erdnüssen oder etwas ähnlich Kleinem, wovon man die Reste hübsch auf dem Boden verteilen kann.

Ansonsten hat Christine Eder den Aufstand der bruderlos gewordenen Schwester gegen das Bestattungsverbot und damit gegen die Willkür der Staatsmacht als einen Berührungsexzess aus dem Geiste der Probensituation inszeniert. Beides passt nicht wirklich zusammen, aber die Stoßrichtung ist klar und macht Sinn: Wenn der Herrscher Kreon, sein Sohn Haimon und dessen Braut Antigone politisch zu Feinden werden, sind ihre Körper noch längst nicht satt geworden aneinander, ihre Seelen noch nicht frei. Der Sohn kriecht dem Vater unters T-Shirt, streichelt und umschlingt ihn ganz, bevor er seiner Härte wegen in den Tod geht.

Dazu wird vor allem Sophokles gesprochen. Leise für sich selbst, überdeutlich für den Sinn und sehr laut für die Wut. Eine denkwürdige Arbeit, bei der dann im Publikumsgespräch mit der Regisseurin allzu vieles nach Zufall roch. Schade! Mehr zu sagen als ein Jens Zimmermann, dem selbst zur Wahl des Stückes (Jon Fosses „Lila/Purple“) nur Plattitüden einfielen, haben die Damen unter den Theaterschöpfern aber allemal. Wenn sie auch leiser sind, weniger poltern, mehr zweifeln vielleicht.

Streng und selbstbewusst wie ihre Arbeit dagegen wirkte Lisa Nielebock vom Schauspielhaus Bochum, die für „Phaidras Liebe“ allen Ausstattungsmüll von der Bühne verbannte. Phaidra, die Königin, liebt ihren Stiefsohn Hippolytos, den Sex-, TV- und Junkfood-Junkie. Liebt ihn wider Willen. Ganz allein geht sie zu Beginn in die Knie vor dem runden Podest, auf dem er sonst seine Tage vertut. Fällt fast, robbt, als lauere das Bodenlose tief in ihr, und: – leckt gierig das Holz der Bühne. Diese Generation ist hungrig aufs Theater!