„Wir müssen mit den Kindern heizen“

ABGESANG Am 24. Oktober wäre Christoph Schlingensief 53 geworden. Das Lichtblick-Kino widmet dem Aktionskünstler und Regisseur ein Special mit Filmen und Überraschungsgästen

Wenders würde diesen Film eine wehmütige Parodie nennen. Fassbinder hätte ihn nie gedreht

VON DETLEF KUHLBRODT

In seiner Autobiografie „Ich weiß, ich war’s“ berichtet Christoph Schlingensief von einer Art Urszene für sein filmisches Schaffen: Der Vater zeigt Urlaubsaufnahmen, die er mit seiner Doppel-8-Kamera aufgenommen hatte. Beim Umlegen der Spulen hatte er etwas falsch gemacht, sodass eine Doppelbelichtung entstand. Fasziniert schaut der kleine Junge auf die Bilder und kann nicht begreifen, wie es kommt, dass in der Projektion plötzlich Leute über seinen Bauch laufen, obgleich es in Wirklichkeit doch gar nicht so war. Später hat er das Gefühl, in seinem Leben sechs Personen darstellen zu müssen, weil seine Eltern sich sechs Kinder gewünscht hatten, er aber Einzelkind war.

Dieses Moment des kindlichen Staunens findet sich in vielen seiner – wenn man die Kurzfilme mitrechnet – 44 Filme. Den ersten drehte er 1968 als Kind, 2003 seinen letzten.

Im Sommer 2010 ist Christoph Schlingensief gestorben. Wenn er noch lebte, würde der aktionsorientierte Künstler, Theater-, Opern- und Filmregisseur am 24. Oktober dieses Jahres 53 werden. Anlässlich der Übernahme und Öffnung des Schlingensief’schen Archivs hatte die Akademie der Künste im vergangenen Jahr einen schönen Erinnerungsabend veranstaltet, nun widmet das Lichtblick-Kino dem großen Abwesenden ein Film-Special zum Geburtstag. In einem ersten Programmblock werden seine Filme „Die 120 Tage von Bottrop“ (1997) und „My Wife in Five“ (1985) gezeigt. In einem zweiten Teil werden Weggefährten an den Filmemacher Schlingensief erinnern und kurze Filme und Ausschnitte präsentieren, die es nur selten zu sehen gibt.

Überbelichtet, schön

Der 13-minütige Kurzfilm „My Wife in Five“ (1985) entstand in Zusammenarbeit mit Studenten an der HFG Offenbach, während Christoph Schlingensief dort als Dozent tätig war. Im Grunde genommen ist es ein klassischer Experimentalfilm mit Überbelichtungen von berückender Schönheit, verschwommenen Schemen, teils Zeitlupenton. Am Anfang singen junge Rekruten fröhlich von der Armee, am Ende hat der Prinz eine Frau gefunden, und im Abspann heißt es, „Sissi starb am 10. September 1898“.

„Die 120 Tage von Bottrop“ (1997) ist Schlingensiefs vorletzter Film. „Wenders würde diesen Film eine wehmütige Parodie nennen. Fassbinder hätte ihn nie gedreht“, heißt es im Vorspann. „Deconstructing Riefenstahl und Fassbinder: die deutsche Krankheit Film, der Triumph des Willens zur Komödie, all das muss totgemacht werden. Einer musste diesen schmutzigen Job erledigen. Er hat es für uns getan“, schrieb Andreas Becker in der taz, nachdem er den Film gesehen hatte.

In seiner großartigen Chaotik ist es ein melancholischer Abgesang auf den Neuen Deutschen Film der späten 60er und 70er Jahre, auf den sich Schlingensief immer berufen hat, ein Abschied von Wenders, Fassbinder, Achternbusch und Co. „Die 120 Tage von Bottrop“ ist der letzte Neue Deutsche Film bzw. der auf dem Potsdamer Platz, der ehemalig größten Baustelle Europas, gedrehte Versuch, ihn als Remake des berühmten Pasolini-Films zu beerdigen. Immer wieder werden Klassiker des Neuen Deutschen Films, etwa „Ein Jahr mit 13 Monden“ zitiert. Teils agieren echte Fassbinder-Schauspielerinnen (Margit Carstensen, Irm Hermann, Volker Spengler), teils Leute aus dem Ensemble der Volksbühne. Christof Schlingensief, der auch ab und zu auftaucht, wird gleichzeitig von Martin Wuttke gespielt; in der Rolle des Aids-kranken Kurt Raab taucht der letzte deutsche Beat-Schriftsteller Harry Hass auf. Es geht mitunter auch darum, den Visconti-Star Helmut Berger für das Projekt zu gewinnen. Dietrich Kuhlbrodt, der ehemalige Chefideologe von „Chance 2000“, sagt schöne Sätze wie „Die Kühlaggregate sind ausgefallen – wir müssen mit den Kindern heizen“ oder „DDie Bilder warten darauf, dass sie gestört werden“.

Wer angesichts des Titels Angst hat vor bösen Bildern, braucht sich nicht zu fürchten. Im Grunde genommen ist „Die 120 Tage“ ein wilder Essayfilm aus einer Zeit, in der Aussagen wie „Sie haben den Intellekt einer Fußballmannschaft“ noch auf Zustimmung trafen.

In einer Zeit, wo vielen Kritikern der neue Helge-Schneider-Film schon als zu experimentell gilt, ist es schön, sich „Die 120 Tage“ noch einmal anzusehen. Der große Entertainer, der viele Jahre mit Schlingensief zusammenarbeitete, hat auch hier die Musik gemacht.

■ Christoph Schlingensief Special: 24. 10., 19.30 Uhr, Lichtblick-Kino, Kastanienallee 77