EINE RADTOUR DURCH DIE GROSSE STADT, AUF DER SUCHE NACH UMSCHULDUNG
: Shutdown in Treptow

AMBROS WAIBEL

Viele können es nicht mehr hören – aber Berlin ist schon toll. Kürzlich fuhr ich durch die halbe Stadt, um meinen ganz persönlichen Shutdown zu verhindern. Also genauer gesagt, um die Schere oder Lücke zuzukriegen, die sich mit griechischer Regelmäßigkeit im letzten Monatsdrittel auftut, wenn das Gehalt noch nicht da ist, die Gas- und Strom- und Kreditlieferanten aber weiterhin ihre – berechtigten! – Forderungen abbuchen.

Ich fuhr, weil ich tatsächlich kein Geld mehr hatte, mit dem Rad bis weit nach Treptow hinein, ich radelte den ganzen Weg vom Checkpoint Charlie durch Kreuzberg, über den Hermannplatz, die Sonnenallee runter und immer weiter runter, unter der S-Bahn durch und über den gepflasterten Mauerstreifen drüber, die Sonne schien, die Luft war lau; und ich sah so viele Menschen, und ich mag Menschen so gern und dann bog ich in die Baumschulenstraße ein, in der ich zuvor nie gewesen war, und die Baumschulenstraße präsentierte sich als ein feierabendlich gefüllter Boulevard, mit dem Charme eines großen, fast südlich anmutenden Landstädtchens, was nicht zuletzt an der imposanten Kirche lag, deren Baustil mir irgendwie mexikanisch vorkam, sich bei näherer Betrachtung dann aber als jugenstilaffin entpuppte, Jugendstil, in Treptow!

Ich war – jetzt sage ich, warum Berlin so toll ist – nach einer gut halbstündigen Fahrradtour in eine ganz neue Stadt gekommen. Und so sperrte ich mein Fahrrad an und betrat die mir empfohlene Genossenschaftsbank, und alle waren nett, ich bekam einen Kaffee und ein faires Beratungsgespräch, jedenfalls fairer als bei meiner Hausbank, aber einen Umschuldungskredit bekam ich nicht.

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Auf der Rückfahrt tröstete mich der Gedanke, dass es immer irgendwie weitergeht – ein Gedanke, den banal nur finden kann, wer die zigtausend jungen Arbeitsmigranten in der EU außen vor lässt, die in Griechenland, Spanien oder Italien auf diesen Gedanken genau nicht mehr kommen. Und als ich die Mauer überfuhr, dachte ich an den Aufsatz von Vladimiro Giacché, den ich tagsüber in der Redaktion – zum Lesen habe ich keine Zeit – überflogen hatte. Der Aufsatz trägt den Titel „Wird Südeuropa wie die DDR enden?“ und ist dem Buch „Anschluss. Die Annexion. Die deutsche Vereinigung und die Zukunft Europas“ entnommen. Der Autor spricht am Schluss von der „Tendenz zum Totalitarismus“ des deutschen Establishments, dem nach der DDR nun der Süden zum Opfer falle. Das deutsche Kapital und seine Vertreter machten einen zynischen Gebrauch von ihrer Macht, lehnten vernünftige Kompromisse stur ab, seien von der absoluten Überlegenheit ihres Standpunktes überzeugt und würden vor allem die Interessen der eigenen Banken und Unternehmen unerbittlich verteidigen. Mit diesen Eigenschaften, schließt Giacché, werde man viele Schlachten gewinnen, aber den Krieg verlieren. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Ich war zu Hause froh, dass die Heizung ansprang und der Kühlschrank noch ein paar Leckereien zu bieten hatte: Da draußen soll es Leute geben, die mit weniger auskommen.