Kutschtour zur Kottbusser Brücke

On the road mit Lisa, Maika und Frau Reinauer: Seit gestern kann man Kreuzberg zehn Tage lang im Dolmusch X-press mit dem Auto, auf Motorrädern, in der Kutsche oder im Solarboot neu entdecken. Dabei sollen Lebens- und Theaterwirklichkeit spielerisch vermischt werden – es ist fast wie Urlaub

VON JESSICA ZELLER

Nach einem vielbesuchten Bahnhof sieht es vor dem Hebbel am Ufer nicht aus. Aber ein neues Gebäude ist schon da, aus Holz und bunten Stoffbahnen, der „Haubahnhof“. An einer Ecke stehen ein Grill ohne Feuer und ein geschlossener Kiosk, an anderer Stelle wird noch fleißig gesägt und geschraubt. Im Theatercafé schlürfen Leute in der Nachmittagssonne Latte Macchiato. Soll so Istanbul aussehen, Istanbul in Berlin? Richtig können wir uns noch nicht vorstellen, was uns beim Kunst- und Theaterprojekt „Dolmusch X-press“ erwartet.

„Nun stehen sie nicht so lange rum, fahren sie mit!“ Während wir etwas ratlos den Dolmusch-Fahrplan studieren, ist die Projektmitarbeiterin schon Feuer und Flamme. Eine Fahrerin hat sie auch für uns organisiert: Cornelia Reinauer, Kreuzbergs Bezirksbürgermeisterin, soll uns in einem dunkelroten Kleinbus mit Spitzenborte an den Außenfenstern in das Dolmusch-Reisebüro in der Falkensteinstraße bringen. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten mit Wegfahrsperre und Rückwärtsgang geht es los. Mit im Wagen sitzt eine junge Verkehrsplanerin von der TU, die genau weiß, warum es so schwierig ist, ein Sammeltaxi mit fester Route, aber ohne klar definierte Haltestellen in Berlin zu etablieren: Deutschland sei eben ein Land der Genehmigungen, und in Berlin käme noch das Monopol der BVG hinzu. Die Taxi-Innung sei natürlich von so einer Idee auch alles andere als begeistert. Einzige Ausnahme sei deshalb ein zeitlich begrenztes Kunstprojekt.

Frau Reinauer hat sich unterdessen in den Streckenplan vertieft. Klar, man könnte einfach die Skalitzer Straße geradezu langbrettern, aber so leicht will man es den Dolmusch-Fahrern nicht machen. Stattdessen durchqueren wir die Koch- und die Kommandantenstraße, zuckeln über Moritz- und Oranienplatz und nehmen die Verlängerung über die Görlitzer Straße. Neugierig gucken Fußgänger vom Straßenrand, einige winken, und in der Wilhelmstraße treffen wir zufällig Frau Reinauers Exmann. Einsteigen will der aber nicht. Er kann es wohl auch nicht glauben, dass die Politikerin ein rotes Fähnchen am Auto befestigt hat, bei jeder Gelegenheit das Fenster herunterkurbelt und in waschechtem Schwäbisch ruft: „Bitte einsteigen! Dolmusch X-press. Nur ein Euro pro Fahrt!“ Nach genau 32 Minuten Fahrzeit kommen wir im Reisebüro an.

Diesen Service in Anspruch nehmen kann man jetzt täglich bis zum 13. Mai. Die Dolmuschs, Sammeltaxis, die in der Türkei und anderen orientalischen Ländern zum Alltag gehören, verkehren zwischen Großbeerenstraße und Oberbaumbrücke. Außer Autos preist der hübsche Hochglanzflyer des Projekts auch sonnenbetriebene Boote, Motorräder und selbst Esel als Transportmittel im temporären Kreuzberger Verkehrsnetz an. Wer zu Fuß unterwegs sein will, kann sich der „Hinterhof-Tour“ anschließen und sich ahnungslos von Schauspielern durch die wahre Ghetto-Atmosphäre geleiten lassen. An so genannten „Dolmusch-Knoten“, verteilt über ganz Kreuzberg, lassen sich die Transportmittel wechseln.

Alle Dolmusch-Fahrer sind ganz normale Kreuzberger, die im April gecastet wurden und eine kleine Aufwandsentschädigung erhalten – plus auserlesene Promi-Chauffeure wie Christoph Schlingensief und DJane Ipek. Nur bei den Kutschern und Bootsfahrern haben die Organisatoren eine Ausnahme gemacht und eine kleine Reederei in Köpenick und zwei Brandenburger Biolandwirte engagiert. Ausgedacht haben sich das Ganze die beiden Architektengruppen „Raumlabor Berlin“ und „Peanutz Architekten“ in Zusammenarbeit mit dem HAU. Ihnen geht es darum, ein alternatives Verkehrsnetz zu etablieren und die Leute im Kiez miteinander ins Gespräch zu bringen. Das HAU will mit „Dolmusch X-press“ die Grenzen des Theaters austesten und überschreiten.

Am Reisebüro angekommen, wollen wir dringend das Transportmittel wechseln. Wer würde bei diesem Wetter nicht gerne auf den Esel umsteigen? Zwei Damen im zusammengebastelten Häuschen zu Füßen der Hochbahn erzählen uns, wie es weitergeht – die Haltestelle des „Donkey X-press“ ist nämlich an der Schillingbrücke, also ein ganzes Ende weit weg. Dorthin sollen wir mit dem Motorrad oder dem Sportwagen kommen, über die so genannte „AutoXPress-Strecke“, die über die Strecke der geplanten Autobahn aus den Sechzigerjahren führt. Aber noch ist Generalprobe – und weder eine Harley noch ein Porsche biegen um die Ecke.

Nachdem wir zehn Minuten erfolglos auf ein Fahrzeug gewartet haben, erbarmt sich wieder Frau Reinauer und nimmt uns noch mal mit – ausnahmsweise, denn eigentlich muss sie zurück zum „Haubahnhof“ und die nächste Fuhre einsammeln. In knapp fünf Minuten sind wir dann auch da: am „Deadend Country Club“. Auch hier ist noch nicht alles eingerichtet, denn eigentlich soll man hier Whisky trinken, Bohnensuppe frisch vom Lagerfeuer löffeln und eine eigene Musik-CD aufnehmen können. Im Stroh und mit Gitarre, versteht sich. Aber wo sind die Esel? „Es gibt keine Esel, wir haben nur Pferde organisiert bekommen“, erklärt uns Pebert vom Country Club. Wir sind ein bisschen enttäuscht.

Allerdings nur so lange, bis wir die zwei Haflingerstuten Lisa und Maika auf dem ehemaligen Mauerstreifen am Bethaniendamm herantraben sehen. Schon sitzen wir neben Kutscher Hartmut Korn und fahren auf den Spuren des Luisenstädtischen Kanals Richtung Kottbusser Brücke. Hinter uns auf den Sitzen freuen sich acht Kids über die Pferdekacke, die auf den Asphalt plumpst, Kutscher Korn erzählt von früher. Es ist fast wie Urlaub.

Als wir ankommen, hat der Bootsanleger an der „Ankerklause“ bereits geschlossen. Doch halt, da auf dem Kanal, weht auf dem Boot da nicht ein rotes Fähnchen? „Anhalten! Dolmusch! Wir wollen noch mitfahren!“ Wir rennen ihm am Paul-Lincke-Ufer hinterher. Und wie es sich für einen richtigen Dolmusch gehört, legt der Fahrer sofort an und nimmt uns auf, den Kanal hinunter, wo über dem Görlitzer Park gerade die Sonne untergeht.

Der Dolmusch X-press, bis 13. 5., täglich 17–21 Uhr; Infos zu Routen und Tickets unter www.dolmusch-xpress.de