meine werte (2)
: Dem Leben Poesie einhauchen

Man diskutiert wieder über „Werte“. Was soll das sein? Alles, wofür ich sterben würde? Ein Wert ist doch gerade, was mir hilft, wenigstens für gewisse Zeiten die Tatsache meiner Sterblichkeit zu verdrängen, weil ich sonst keinen Schritt tun kann und in Depressionen verfalle.

Manche nehmen Drogen: Religion, Liebe, Alkohol, Gewalt, Geld, Macht. Aber statt mir damit die Wartezeit zu verkürzen, könnte ich auch gleich aufgeben. Ich setze stattdessen auf Arbeit. Arbeit ist das eine Dogma, an dem ich nicht rütteln lasse, nach dem Verlust des transzendentalen Obdachs in der Moderne. Arbeit natürlich nicht-entfremdet, also Kunst, in welcher Form auch immer.

Ob ich meiner Tochter auf der Schaukel Schwung gebe oder am Schreibtisch an Texten spiele, alles ist Arbeit, sofern ich es bewusst tue. Das Gegenteil von Arbeit ist nicht Freizeit (die ist als Regeneration selbst Teil der Arbeit), sondern tote Zeit. Wie Virilio bemerkte, ist eine Nebenwirkung der Automatisierung und der Eroberung des Kontinents Geschwindigkeit dauerndes Warten. Auf den hochfahrenden Computer, auf die Mikrowelle, auf den Fahrstuhl. Ein Warten, das schmerzt, weil es ein Vorgeschmack ist auf den Tod. Am ungeduldigsten ist man, wenn man sich am schnellsten fortbewegt, im Flugzeug. Reisen, Gespräche, Beziehungen, Erfahrungen, Kultur, alles muss zur Arbeit anregen, sonst ist es überflüssig.

Man muss darum kämpfen, das Lästige eines Besuchs beim Wohnungsamt oder des Ausfüllens der Steuererklärung produktiv zu machen, um ihm den Teufel der Sinnlosigkeit auszutreiben. Alles Recherche, alles Material. Kunst kann sich alles anverwandeln, deshalb ist ein Leben ohne Kunst gar kein Leben. Kunst natürlich nicht elitär begriffen, sondern demokratisch, als basteln.

Die großen Künstler waren immer Bastler, ihr Material der Müll. Dem Leben Poesie einhauchen, im Wissen um die eigene Sterblichkeit, das ist der alltägliche Kampf. Ein Wert ist, was mir dabei hilft, die dauernde Profanisierung meiner Existenz durch Staat, Medien, Zeitgeist, Mitmenschen und nicht zuletzt durch meine eigene Unzulänglichkeit zu bekämpfen. Carpe diem!

JOCHEN SCHMIDT