Da muss wieder Unordnung rein

Die alternativen Gründungsmythen tragen längst nicht mehr: Kampnagel in Hamburg ist die größte Spielstätte der freien Szene in Deutschland und damit auch die schwierigste. Wohin steuert der Theaterort unter der neuen Chefin Amelie Deuflhard?

VON SIMONE KAEMPF

Wenn es mit dem Posten auf Kampnagel nichts geworden wäre, dann hätte sie an den Berliner Sophiensaelen weiter an dem Erfolgsmodell gewirkt: einer freien Tanz- und Theaterstätte überregional Resonanz zu verschaffen und den Künstlern trotzdem freie Hand zu lassen, an eigenen Formen und Inhalten zu arbeiten. Dieses Prinzip hat sich mit ihr entwickelt und verfeinert, seit Amelie Deuflhard vor sieben Jahren die Sophiensaele von Sasha Waltz und Jochen Sandig übernahm. Nach deren Weggang hatte man dem Spielort wenig Chancen prophezeit. Zu Unrecht, wie sich herausstellte. Deuflhards System, sich mit freien Gruppen und anderen Produktionsstätten eng zu vernetzen, war nur der logische Schritt, den Ort zukunftsfähig zu machen.

Ob ihr eigener Karriereschritt sich auch als logisch erweist, wird sich zeigen. Im kommenden Jahr wird Deuflhard die Leitung von Kampnagel übernehmen. Hamburg bekommt dann nach Ulrich Khuon und Friedrich Schirmer nicht nur eine dritte gebürtige Schwäbin, sondern ähnlich den beiden Intendanten von Thalia Theater und Schauspielhaus eine Ermöglicherin, die die Künstler, an die sie glaubt, fördern und sichtbar machen will. Deuflhards professionelle Arbeitsweise steht für die Öffnung der freien Theater für neue organisatorische Einflüsse – so wie in den Stadttheatern längst Experimentierlust, multidisziplinäre Projekte und schnelles Reagieren auf politische und gesellschaftliche Phänomene angekommen sind. Und ihre Aura, mit dem Rüstzeug des Theaters sperrige Orte wie den Berliner Palast der Republik öffentlich zu machen, dessen künstlerische Zwischennutzung sie initiierte, gab ihr letzten Endes den Vorzug unter 40 Mitbewerbern.

Insgesamt also sehr gute Voraussetzungen, um Kampnagel wieder zu einer ersten Adresse zu machen und die Herausforderung des Ortes anzunehmen, für den weder bewährte Rezepte der Theaterpraxis noch radikale Ansätze gesunde Alternativen sind. Denn der Auftrag, freie, experimentierfreudige Kunst zu zeigen, beißt sich mit den drei Kampnagel-Hallen, von denen allein die große 800 Zuschauern Platz bietet, der nur mit einem besonderen Programm zu füllen ist.

Wenn die jetzige Intendantin Gordana Vnuk nach sechs Jahren planmäßig abtritt, hinterlässt sie zwar ordentliche Zuschauerzahlen, aber auch einen unübersichtlichen Spielplan aus internationalen Gastspielen, avancierten Eigenproduktionen, Kochshows, Lesetagen und sonstigen Fremdvermietungen, mit dem das Haus rapide an Bedeutung verlor. Vorgänger Res Bosshart hatte Glück mit der Umbruchzeit der 90er-Jahre. Sandra Strunz, Nicolas Stemann oder Falk Richter probierten auf Kampnagel lieber eigene Spielweisen aus, statt als Regieassistenten am Thalia Theater nur zweite Garde zu sein, und bescherten dem Gelände erhöhte Aufmerksamkeit. Und aus den 80er-Jahren stammt der Ruf, eine Gründung der Alternativszene zu sein, der die Gewinnung der ehemaligen Hafenkran- und Gabelstaplerfabrik für die Kultur zu verdanken ist. Wobei für die spektakulären Bespielungen der Hallen künstlerisch von Anfang aneben doch Schauspielhaus, Thalia Theater und Staatsoper verantwortlich zeichneten.

Was bedeutet das für die Zukunft? Als neue Intendantin muss Deuflhard keine Expertin der Vergangenheit sein. Doch anhand der Gründungsmythen lässt sich für die Zukunft lernen. Einmal wurde auf ihre Frage, was denn früher so besonders gewesen sei, geantwortet: der Kontrast zwischen dem Dreck des Geländes und den weißen Schürzen der Hostessen bei den Staatsopern-Produktionen. „Heute, wo alles längst aufgeräumt und generalüberholt ist, muss innen wieder Unordnung rein“, sagt Deuflhard. Jenseits von Namen und festen Konzepten heißt das, „Künstler holen, die nicht nur für Gastspiele kommen, sondern sich mit dem Ort verbinden. Wen kann man anregen, größer zu denken? Und wer sitzt als Kooperationspartner vor Ort?“ Was sich erfreulich nach Aufbruch, Aufregung und Anschlusshalten anhört, steht und fällt am Ende mit der Chance, zusätzliche Projektgelder zu akquirieren.

Sollte die Finanzluft dünn werden, ist die Fortentwicklung des Orts in Richtung Tanz durch die Förderung des Tanzplans auf jeden Fall gesichert. Eine der Kampnagel-Hallen wird Sitz eines Tanzhauses inklusive Choreografie-Zentrum, das der nicht gerade florierenden freien Tanzszene wieder zu Leben verhelfen soll. Denn im Tanz wie im Theater hat die unvernünftige Hamburger Förderpolitik über die Jahre das Hinterland zerstört.

Dem Mitte-rechts-Senat galt Kampnagel als Ort verdächtigen Querdenkertums, dem man hilflos die Evaluierung als Privattheater aufzwang. In der Distinktion der feinen Unterschiede blieb das nicht ohne Wirkung: für Politiker ist Kampnagel immer noch ein Vorzeige-Off-Theater, der freien Szene gilt Kampnagel mittlerweile als etabliert und nicht mehr hipp. Wer konnte, wanderte nach Berlin ab, wo die Chancen auf Projektgelder auch noch um etliches besser stehen.

Ein erster Abtrünniger wird mit Deuflhard jedoch zurückkehren. Matthias von Hartz, der noch als Regiestudent auf Kampnagel inszenierte und mittlerweile an vielen großen Häusern zu tun hat, wird ab 2008 das Sommerfestival verantworten. Als einer, der sich bereits am großen Apparat gemessen hat und diskursiven Inhalten dabei treu bleibt, kommt er für Deuflhards Ziel gerade recht, die Widersprüche des Orts in ein kreatives Spannungsverhältnis zu setzen. Während es Tom Stromberg in fünf Jahren am Schauspielhaus nicht gelungen ist, die freie Theaterszene in Hamburg gesellschaftsfähig zu machen, hat Deuflhard ganz gute Karten, um von unten durchzustarten.