Schuld war nur der Baum

Vor 43 Jahren begann in der Türkei eine Fehde zwischen zwei Familien. Auslöser: Der Streit um einen Baum. Die Blutspur zieht sich nach Berlin: Vor dem Landgericht steht ein 30-Jähriger wegen Mordes

VON PLUTONIA PLARRE

Am Anfang dieser Geschichte, die in eine jahrzehntelange Blutfehde mündet, steht ein Baum. Doch damit fangen die Probleme schon an. War es ein Birnbaum, wie die einen sagen? Oder eine Weide, wovon die anderen überzeugt sind? Alles, nur kein Olivenbaum, würde in die Gegend des zwei Autostunden von Ankara entfernten türkischen Dorfes Cukurören passen. Dort begann das Drama im Winter 1963. Einigkeit besteht nur über die Größe des Baumes: Er war eher klein, sozusagen ein Bäumchen. Sicher ist auch, dass er von einer Gruppe Jugendlicher beschädigt wurde. Zwischen der Familie C., der das Bäumchen gehörte, und der Familie D., deren Angehörige den Schaden verursacht hat, kam es daraufhin zum Eklat. Am Ende lag ein Mitglied der D.s tot am Boden. Er hatte ein Messer in die Brust bekommen.

Gestern, 43 Jahre später, im Kriminalgericht Moabit: Der 50-jährige Geschäftsmann Sadik D. steht auf dem Gerichtsflur und zieht nervös an seiner Zigarette. Drinnen wird in wenigen Minuten der Prozess gegen den Mörder seines Bruders, Satilmis D., beginnen. „Die Sache ist furchtbar kompliziert. Das versteht kein Mensch“, versucht der in dunklen Nadelstreifenzwirn gekleidete Sadik D. die Fragen der Journalisten abzuwehren.

Sadik D. war sieben Jahre alt, als in Cukurören die Sache mit dem Baum passierte. Seit 32 Jahren lebt er in Deutschland. Doch der Mord an seinem 26-jährigen Bruder Satilmis D., der am 11. März 1995 in Kreuzberg von vier Schüssen in den Kopf getroffen wurde, zeigt: Die Blutspur zieht sich bis nach Berlin.

Nach Angaben eines Justizsprechers ist Satilmis D. das dritte Todesopfer der seit 1963 schwelenden Fehde. Teile der Presse sprechen sogar von „mindestens vier Toten“. Auch in eine Schießerei Ende der 90er-Jahre in Neukölln sollen die Familien verwickelt gewesen sein.

Vor dem Gericht wird nur der Mord an Satilmis D. verhandelt. Angeklagt ist der 30-jährige Mesut A. Das hat er seinem ältesten Bruder Cihan A. zu verdanken: Der 38-Jährige, der in beigem Anzug und Schirmmütze zum Prozess erschient, hatte der Polizei vor einem Jahr den entscheidenden Tipp auf seinen Bruder gegeben. Andernfalls wäre die elf Jahre zurückliegende Tat vielleicht nie aufgeklärt worden.

„Mein Bruder ist ein Dummkopf, dass er sich in diese Blutfehde hat hineinziehen lassen“, sagt Cihan A. auf dem Flur zu Journalisten. Mit der Fehde wegen des Baumes habe die Familie A. nichts zu tun. „Wir kommen nur aus dem gleichen Dorf.“ Ein schlimmes Dorf. „Fast jeder ist mit jedem verfeindet. Es herrscht Neid und Missgunst“, so Cihan A. Bis heute käme es vor, dass Streitigkeiten mit Mord und Totschlag endeten. „Meine Eltern sind aus dem Dorf geflüchtet, nachdem meine Mutter zwei Messerstiche in den Bauch bekommen hat. Da war sie mit mir im sechsten Monat schwanger.“

Mesut A. sitzt in der Anklagebox hinter schusssicherem Glas. Das Gesicht hält er zwischen seinen auf dem Tisch liegenden Armen verborgen. „Er weint“, sagt sein Bruder Cihan. Weil Mesut A. zur Tatzeit 19 Jahre alt war, verfügt das Gericht den Ausschluss der Öffentlichkeit. Die Zuhörer, die zum größten Teil aus Angehörigen der weitläufigen Familie D. bestehen, und die Presse werden aus dem Saal verbannt.

Auch Cihan A. und seine Mutter müssen raus. Die vom Leben gezeichnete Rentnerin mit dem bunten Kopftuch, die kaum Deutsch spricht, versteht nicht, warum sie den Prozess nicht verfolgen darf. Nur widerwillig verlässt sie das Gerichtsgebäude. Cihan A. bleibt, um die ratlosen Journalisten aufzuklären.

Schuld an der Tat, behauptet er, sei letztendlich seine Mutter. Diese habe Mesut unbedingt mit einem Mädchen in Cukurören verheiraten wollen. Die ausgesuchte Braut sei eine Angehörige genau jener Familie C., der die Weide – oder war es doch ein Birnbaum? – gehörte. Nach der Trauung habe die Familie C. Mesut unter Druck gesetzt, die offene Rechnung mit der Familie D. zu begleichen.

Die Einzige, die verhindern könne, dass der Blutrausch weitergehe, sei seine Mutter, sagt Cihan A. Der Vater sei seit seinem Schlaganfall nicht mehr dazu in der Lage. „Ich habe schon mit den D.s gesprochen“, betont Cihan. „Aber wenn Mutter weiter so stur bleibt und sich nicht entschuldigt, hat das keinen Wert.“ Der Prozess wird fortgesetzt.