PRESS-SCHLAG
: Vom Wesen des Lochs an sich

PHANTOMTOR In der Diskussion um Stephan Kießling offenbart sich die Schönheit von Paragraf 1: Der Schiedsrichter hat immer recht

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben einen Bildungsauftrag. Diesem kommen sie emsig nach. Auch das Erste als Bundesliga-Zweitverwerter mit seiner „Sportschau“. Am Samstag musste man dem, haha, Modera-Tor Gerd Delling wieder einmal dankbar sein. Erstens für seinen unbeugsamen Mut zu Namenswitzeleien und verpatzen Pointchen, deren Niveau Grundschülern erste Erfahrungen im Fremdschämen beschert. Auch das ist Bildung im besten Sinne.

Und zweitens für die mutige Entscheidung, die Sache mit Kießlings Phantomtor noch mal so richtig hochzukochen. Eigentlich will man davon ja nichts mehr hören: vom Leverkusener Nichtmehrnationalstürmer, der sich als Danebenschießer feiern ließ. Von all den bigotten Profikollegen, die den Schummler in Sippenschutz nehmen, wegen des lattenschwer lastenden Drucks und weil doch im modernen Fußball alles so blitzeschnelle gehe. Und dann all die Bonmots diese Woche um Netze, um Netzer, ums Einnetzen, um das Wesen des Lochs an sich. Abpfiff!

Aber die Bildungsanstalt „Sportschau“ vermittelt auch Wissen von unten, etwa die schöne Pointe vom Westfalenligisten 1. FC Gievenbeck aus Münster. Ein Spieler hatte den Ball zwei Tage nach Kießlings Untor mittig ins Tor geschossen. Drinner geht nicht. Kein Tor, aber sprach der Referee, weil der Ball durch ein hoffenheimhaftes Loch hinten herausgekullert war. Das Phantomuntor. „Absoluter Wahnsinn“, meinte der Trainer.

Ja, Fußball ist Wahnsinn. An diesem Montag wird Stefan Kießling beim DFB aussagen. Er wird zu Protokoll geben, dass er alles nicht recht habe sehen können. Dass ihn plötzlich die anderen beglückwünschten, als er kaum mit dem Haareraufen fertig war. Und dass die konsternierten Gegner nicht protestierten. Die DFB-Rechtsmischpoke wird die Tatsachenentscheidung hin und her wiegen und letztlich Justitias Waage ausschlagen lassen. Es kann kein Loch im Netz gewesen sein, weil der Schiedsrichterassistent das Flechtwerk geprüft und als dicht gemeldet hatte. Eher war der Ball korrekt ins Tor geflogen und hatte dabei das Loch gerissen.

Gut so. Bloß kein Wiederholungsspiel. Kein ganzes und auch keines mit Torabschlag ab Minute 68, wie vom gewissensgeplagten Rudi Völler angeregt. Wir würden den Glauben verlieren an die Rechtsfreiheit im Fußball, an diese wunderbar archaische Willkür. Schließlich gilt der alte Grundschülerwitz. Paragraf 1: Der Schiedsrichter hat immer recht. Paragraf 2: Wenn er mal nicht recht haben sollte, tritt Paragraf 1 in Kraft. Und bitte, irgendwann wird Gievenbeck gegen Leverkusen spielen. Da wird Entscheidendes passieren. Denn im Fußball, so die Präambel zu allen Paragrafenwerken, gleicht sich beizeiten alles aus. Das zu wissen ist sehr schön.

Und im Mai werden alle Verbandsgrößen Kießling feiern als Torschützenkönig mit einem Tor Vorsprung. Von Eigenscham keine Spur. BERND MÜLLENDER