ISOLDE CHARIM Münchner Freiheit
: Wir Konvertiten

Glaube bedeutet heute Aneignung, nicht Zuweisung

Erleben wir eine Renaissance der Religion? Wer diese Frage beantworten will, sollte sich vielleicht weniger den Glaubensinhalten und mehr den Glaubensformen zuwenden. Denn nicht daran, was wir glauben, sondern daran, wie wir glauben, lässt sich Veränderung ablesen.

Gesellschaftliche Entwicklungen manifestieren sich dadurch, welche Konflikte zentral werden. An diesen lässt sich ersehen, dass wir einen Glauben verloren haben: den linken Glauben, dass die Verteilungskämpfe, die sogenannten teilbaren Konflikte, die eigentlichen Auseinandersetzungen sind. Stattdessen sehen wir allerorten die sogenannten unteilbaren Konflikte, jene um das Nichtverhandelbare – um Kultur, Identitäten, Glauben – im Vordergrund. Es gibt also ein Wissen um die unabdingbare, unhintergehbare „Ideologiehaltigkeit“ des gesellschaftlichen Seins, um die Existenz von wie auch immer gearteten Glaubensverhältnissen. Und es gibt die Diskrepanz zwischen messbaren Fakten (wie leeren Kirchen) und dem diffusen Glaubensschub der jüngeren Vergangenheit. Diese Diskrepanz erklärt zwar nichts, ist aber ein Indiz darauf, dass sich in Glaubensdingen etwas grundlegend verschoben hat.

Die Kirchen haben keine Autorität mehr. Weder können sie den Glauben bestimmen noch die Sitten regeln. Auch wenn man an den Ritualen teilnimmt, ist man kein traditionell Gläubiger. Denn Religion wies den Menschen ihren Platz zu. Die Tradition kam von den Vorfahren, durchquerte die Individuen, die ihr nichts hinzufügten, und ging an die Kinder weiter. Religion war eine ent-subjektivierende Ordnung, die den Einzelnen in eine Kette einreihte.

Das ist vorbei. Andererseits sind die intellektuellen und spirituellen Ressourcen des Säkularen – der Fortschritt, die Geschichte oder die Nation – erschöpft. In dieser Situation erleben wir das Aufkommen einer neuen Glaubensform: Man wählt einen Glauben. Man sucht sich eine persönliche Zugehörigkeit aus. Das ist ein Unterschied ums Ganze. Denn statt in eine Überlieferung eingeordnet zu werden, eignet man sich Traditionen an, eigene oder fremde. Heute sind alle, die glauben, Konvertiten, selbst innerhalb der eigenen Religion. Die Grundlage des Glaubens, die Art, wie wir unseren Glauben bewohnen, ist die des Konvertiten: Wir wählen einen Glauben aus. Oder mehrere. Egal. Denn eine Wahl hat die gegenteilige Funktion von früherer Religiosität. Statt einer Ent-Subjektivierung durch gegebene Zugehörigkeiten dient der Glaube heute der Ich-Werdung. Statt um die Zuweisung zu einem Platz geht es um dessen subjektive Aneignung und selbst gewählte Bindungen. Und da sich diese unserer persönlichen Entscheidung verdanken, bleiben sie widerrufbar.

Deshalb sind volle Kirchentage kein Hinweis für die Auferstehung der alten Götter. Das ist nicht die Rückkehr alter Glaubensinhalte, sondern der Auftritt einer neuen Form, seine Subjektivität zu leben. Wir haben den Glauben zu etwas Anderem, ja nahezu zu seinem Gegenteil, gemacht: zu unserer Identität.