Der höchste Berg ihres Lebens

Bei einem Verkehrsunfall verliert die Hebamme und passionierte Bergsteigerin Irmgard Timpe ihr Bein. „Das wird mein höchster Berg“, sagt sie sich. Zwei Jahre später macht sie sich auf den Weg, um den Himalaya zu besteigen. Mit einer Prothese, die sie in den Dörfern zur Sensation werden lässt

„„Ich glaube an keinen Gott – aber ich habe gedacht, wenn es einen gibt, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, ihm zu danken“

Birgit Borsutzky

Irmgard Timpe vergleicht ihr Leben gern mit einer Berglandschaft. Kleine Hügel wechseln sich mit großen Herausforderungen ab. Die 65-Jährige sitzt am Wohnzimmertisch ihrer Altbauwohnung in Hannover und erzählt von Touren in Neuseeland, auf dem Kilimandscharo und im Himalaja. Immer wieder rückt die Rentnerin ihren Stuhl zurecht, trommelt mit den Fingern auf den Tisch, als wüsste sie nicht wohin mit ihrer Energie. Im vergangenen Winter ist Irmgard Timpe auf dem Dach der Welt gewandert – auf einem Bein. Wenn man genau hinguckt, sieht man die Hightech-Prothese zwischen Socken und Sporthose.

Ein Sommertag im Jahr 2003. Irmgard Timpe wacht in einem Krankenhaus auf. Sie hatte einen Unfall, ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Ihr Sohn steht neben dem Bett. Ihre Frage, ob das Bein ab sei, beantwortet er schlicht mit: „Ja“. Irmgard Timpe fragt sich, wie es weitergehen soll. Schnell wird ihr klar, dass sie diesen Berg schaffen will. „Einfach im Bett zu liegen und zu sagen, das war‘s, kam für mich nicht in Frage.“

Extremsituationen und Grenzerfahrungen kennt sie von ihren Trekkingtouren, auch von ihrer Arbeit als Hebamme. „Jede Geburt ist ein Berg, der genommen wird“, sagt sie. So oft hat sie für fremdes Leben Verantwortung übernommen, sie will vor dem eigenen nicht kneifen. Familie und Freunde helfen. „Wenn du fit bist, gehen wir wieder zum Everest“, sagt eine befreundete Trekkerin wenige Tage nach dem Unfall. Der Stumpf heilt. Schnell lernt Irmgard Timpe mit der Prothese zu laufen. Sie nimmt das Unabänderliche bewusst an. „Ich bin sachlich und akzeptiere schnell“, sagt sie. Inzwischen leitet sie eine Selbsthilfe-Gruppe für Beinamputierte bei Hannover.

Nur einmal bricht ein Weinen aus ihr heraus. Sie erinnert sich an den ersten Familienurlaub nach dem Unfall. Sie steht im Ferienhaus hinter dem Fenster und sieht auf den gefrorenen See, auf dem die Familie Schlittschuh läuft. Eigentlich wollte sie ihren Enkelkindern das Schlittschuhlaufen beibringen.

Sechs Wochen nach der Amputation führt sie ihren Haushalt selbständig, ein halbes Jahr später fährt sie Auto. Vor der Himalaja-Tour trainiert Irmgard Timpe in den Alpen. „Natürlich hat sich mein Mann Sorgen gemacht, aber behüten lassen wollte ich mich nicht.“ Sie zeigt einen Zeitungsartikel von 1998. Ein unterschenkelamputierter Mann hat den Mount Everest bestiegen. Weil sie davon so beeindruckt war, hat Timpe den Artikel damals aufgehoben. Wie hätte sie ahnen sollen, dass sie 2005 selbst mit Prothese am Flughafen in Kathmandu stehen würde.

Als das Sicherheitspersonal in ihrem Rucksack Akkus, eine tragbare Solaranlage, Kabel und Stecker findet, vermutet man eine Bombe bei ihr. Dabei ist es die Energieversorgung für die computergesteuerteProthese, die täglich aufgeladen werden muss. Also zieht Timpe ihr Hosenbein hoch und erklärt.

Auch der Bergführer im fast 3.000 Meter hoch gelegenen Ort Lukla hat Bedenken. Eine Trekkerin mit Prothese hat er noch nie begleitet. Schon bei der ersten Etappe bleiben ihre Wanderstöcke zwischen den Steinen hängen. Sie stürzt auf steilen Schotterwegen, steht immer wieder auf, mit Hautabschürfungen und blauen Flecken. Das mit ihrer Freundin verabredete Etappenziel erreicht sie nicht.

Irmgard Timpe geht weiter, will diesen Berg schaffen. Sie wandert mit Unterarmgehstützen, ihre Behinderung ist offensichtlich.

Um eine solche Tour zu bewältigen, hat Irmgard Timpe eine Prothese, bei der das künstliche Kniegelenk elektronisch gesteuert wird. Da die Prothese täglich aufgeladen werden muss, hat sie für die Etappen in Regionen ohne Strom Solarzellen auf ihrem Rucksack befestigt.

Was ihr passiert sei, wollen die Menschen wissen. Neugierige sammeln sich um sie, Kinder wollen das fremde Gestell aus Metall und Plexiglas anfassen. Irmgard Timpe ist eine Sensation. „Die Sherpa wandern nicht aus Spaß in den Bergen und schon gar nicht auf einem Bein“, meint sie. Manchmal eilt ihr der Ruf ins nächste Dorf voraus. Die Menschen empfangen sie mit Tee und frischer Yakmilch. Das Wandern wird ihr wieder zur Routine.

In der Nähe eines buddhistischen Klosters erreicht sie den Gipfel ihrer Tour, klettert auf 4.000 Meter und hinterlässt eine Gebetsfahne im kalten Wind. „Ich glaube an keinen Gott – aber ich habe gedacht, wenn es einen gibt, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, ihm zu danken“, sagt sie. Als sie nach fast vier Wochen und 120 Kilometern wieder in Lukla ankommt, sagt der Bergführer zu ihr: „Das nächste Mal gehen wir zum Everest-Basiscamp.“ Dann auf 5.545 Meter Höhe.

Imgard Timpe berichtet heute um 18 Uhr in der Kreuzkirche Hannover über ihre Tour.