bahnfahrt mit bohnen von RALF SOTSCHECK
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Der Abend in der wunderbaren Braunschweiger „Gastwirtschaft zu den vier Linden“ wurde länger als geplant. Hartmut, Karl und ich waren bei den Bestellungen aus dem Rhythmus geraten. Jedes Mal, wenn zwei von uns heim wollten, hatte einer noch ein volles Glas, so dass die anderen beiden nachbestellten. Und Elvis, der Wirt, weigerte sich, die Zapfhähne versiegen zu lassen.

Entsprechend schlecht war mein Zustand am nächsten Tag, und er wurde noch miserabler, als ich mich in den überfüllten Zug zwängte. Allerdings war das Abteil der ersten Klasse vollkommen leer. Es wird schon kein Schaffner kommen, dachte ich mir, und wenn doch, könnte ich immer noch zu den Wochenendausflüglern, Jungsoldaten auf Urlaub und Witwen auf Verwandtschaftsbesuch in die Holzklasse umsiedeln.

Genauso kalkulierte offenbar ein türkisches Ehepaar, das sich mit vier Kindern und zwei großen Taschen in meinem Abteil niederließ. Eine der beiden Taschen entpuppte sich später als fünftes Kind, aber das merkte ich erst, als der gut verpackte Säugling zu quieken begann. Zunächst breitete sich die Familie auf den vier Doppelsitzen an der Tür aus. Ich saß etwas erhöht auf einer Art Plattform und hatte einen guten Überblick. Der Vater hatte offensichtlich schlechte Laune, die sich immer dann für einen Moment besserte, wenn eines der Kinder ihm Anlass gab, es zu ohrfeigen und des Abteils zu verweisen.

Plötzlich begann er, die Plattform neben mir mit Zeitungspapier auszulegen. Dann bellte er seiner Frau etwas zu, das offenbar „Sitz!“ bedeutete, denn nun ließ sie sich mit den Kindern auf dem Papier nieder, während er mit der großen Tasche auf der gepolsterten Doppelbank Platz nahm. Nacheinander förderte er daraus zwei Pide, ein Plastikfass mit gefüllten Weinblättern, einen Beutel Würste sowie eine Thermoskanne Tee hervor – und einen Campingkocher, auf dem er weiße Bohnen in einem Topf erhitzte. Ob ich mitessen wollte, fragte er. Warum nicht? Wann hat man denn sonst die Gelegenheit, von Braunschweig aus in einem türkischen Speisewagen zu reisen?

Nach der warmen Mahlzeit räumte die Mutter das Geschirr zusammen, während der Vater das Zeitungspapier einsammelte. Nun zog sich die Familie aus dem Speisezimmer zurück, das trotz der Papierauslage schwere Spuren des Gelages aufwies – jedoch nicht lange: Mutter kramte einen feuchten Scheuerlappen aus der Tasche und wischte auf den Knien das Abteil durch. Ich war von der ausgefeilten Logistik tief beeindruckt.

Vor dem erhofften Nachtisch – ich hatte insgeheim fest mit Baklava gerechnet – musste die Familie aussteigen, und zwar keinen Augenblick zu früh. Im Gewühl der zweiten Klasse war deutlich eine Schaffnermütze auszumachen, die bedrohlich näher kam. Ich stieg vorsichtshalber ebenfalls aus. Ursprünglich wollte ich weiter nach Leipzig, wo mein „blind date“, die Altenburger Übersetzerin und Musikerin Kristina, ihren 24. Geburtstag feierte. Aber noch mehr Alkohol? Wie würden die weißen Bohnen reagieren, wenn sie wie bei einem Sandwich zwischen zwei Lagen Bier eingezwängt wären? Lieber nicht. Herzlichen Glückwunsch nachträglich, Kristina. Das muss reichen.