Grüne auf pragmatischer Prinzipiensuche

Auf 16 Regionalkonferenzen zu ihrer Zukunft stellen die Grünen alte Gewissheiten in Frage. Bei der bildungspolitischen Debatte in München wollte man vor allem Multikultiklischees vermeiden und forderte „Deutsch als Verkehrssprache“ an Schulen

AUS MÜNCHEN MAX HÄGLER

Claudia Roth hatte sich gut vorbereitet. Als der Münchner Zukunftsworkshop den Religionsunterricht erreicht, zückt die Parteivorsitzende der Grünen aus ihrer Handtasche ein Grundgesetz im Miniformat und beginnt, Bundes- und Landesverfassungsfragen zu diskutieren. Ohne die Last der Regierungsverantwortung hat man Zeit und Gelegenheit, „die Selbstgewissheit in Frage zu stellen“, wie es Roth formuliert.

Genau darum geht es bei dem Diskussionsmarathon zur Parteizukunft, den die Grünen am Samstag in der bayerischen Landeshauptstadt gestartet haben. Die Suche nach dem neuen Bewusstsein erfolgt im Stechschritt: Nach München folgte gestern schon in Oberhausen – mit taz-Chefredakteurin Bascha Mika als Gast – die Diskussion um das Thema Energie. Nach insgesamt 16 Regionalkonferenzen wird im September als Schlusspunkt in Berlin diskutiert, entstehen könnte dabei ein neues grünes Programm.

Es geht um viel: „Ich stelle alle Standpunkte zur Disposition“, so Roth gegenüber der taz. „Wir müssen etwa sehen, ob das alte entwicklungspolitische Bild vom bösen Norden und dem guten Süden noch uneingeschränkt passt.“ Auch das Ja zu Geheimdienstarbeit sei neu und müsse nochmals diskutiert werden.

Überhaupt haben die Grünen, zumindest ihre Führung, in den letzten Monaten eine Haltung gegenüber dem Staat entwickelt, die so gar nicht mehr spontikompatibel ist. Viele hatten erwartet, dass die Grünen erneut auf Widerstand schalten würden, oder vielleicht sogar schalten müssten, um sich im leidigen Oppositionsjob ein Profil zu schaffen. Dazu passte am Samstag das Kopfschütteln von Claudia Roth über die ausbleibenden Bürgerproteste gegen die neuerliche Hartz-IV-Verschärfung vor allem für die Jungen.

Andererseits redete die Parteichefin vom „staatlichen Unterricht als Integrationsfaktor“. Auch die zentrale Erkenntnis des Thesenpapiers, das die beiden Parteichefs Roth und Reinhard Bütikofer vor einem Monat präsentierten, lautet: „Institution matters“, staatliche Einrichtungen sind wichtig. „Ohne starke, intakte Institutionen (öffentliches Bildungssystem, Rechtsstaat, öffentlich-rechtliche Medien) kann sich die Zivilgesellschaft nicht entfalten und behaupten.“ In dem zwanzigseitigen Papier wird ebenfalls deutlich, dass die grünen Grundsatz-Autoren, neben Roth und Bütikofer auch Exminister Jürgen Trittin und die politische Geschäftsführerin Steffi Lemke, wieder an die Macht wollen. „Grüne Orientierung hegemonial machen“, heißt es kämpferisch, denn „die Verteidigung des Erreichten ist uns nicht genug“.

Was grüne Orientierung künftig sein könnte, wurde beim Auftakt in München deutlich. Durchaus als streitbarer Landesverband bekannt, ging es bei den Bayern gut gelaunt und pragmatisch zu. Detailliert, aber nicht detaillistisch diskutierten in der Evangelischen Stadtakademie Claudia Roth, die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Krista Sager, die Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz und Jerzy Montag mit etwa 70 bayerischen Parteigängern, Kommunalpolitikern und externen Referenten aus Schule und Wirtschaft Fragen zur Bildungspolitik.

Eine verbindliche Einbeziehung der islamischen Organisationen bei der Schulpolitik wurde dabei übergreifend gefordert, und als Roth mit Blick auf die Parallelgesellschaft mancher Türken feststellte: „Ihr lebt verdammt noch mal hier, wir müssen die Infusion aus der Türkei kappen“, nickte die Runde beifällig. Die bayerische Landesvorsitzende Theresa Schopper sprach vom „grünen Wunsch nach der Lust auf Lernen und Leistung“ und beinahe den einzigen spontanen Beifall gab es bei Krista Sagers Deutschbekenntnis: „Ich halte es schon für legitim, dass eine Schule festlegt: Bei uns ist Deutsch Verkehrssprache.“

Und weil wohl wirklich neue Zeiten anbrechen bei den Grünen, sprach die Fraktionsvizechefin sich auch noch vehementer als bisher für die Auflösung des dreigliedrigen Schulsystems aus – „obwohl einem Teil unserer Klientel ja noch die Haare hochgehen, wenn ich davon rede“.