„Die Kleinen haben Angst vor Konkurrenz“

INTERVIEW CHRISTIAN FÜLLER

taz: Herr Scharpf, Sie haben so etwas wie das Copyright auf der Politikverflechtung von Bund und Ländern, die Sie bereits 1976 als Problem erkannten.

Fritz W. Scharpf: Ja, das war vor 30 Jahren. Es hat also ganz schön lange gedauert, bis es ins Problemverständnis der handelnden Politiker durchgesickert ist. Wir definierten damals das gegenseitige Behindern von Bund und Ländern als ein strukturelles Problem des deutschen Föderalismus.

Jetzt wird die bevorstehende Neuordnung des Bundesstaates als Jahrhundertreform gefeiert.

Nein, eine Jahrhundertreform ist es sicher nicht. Man wollte Bundes- und Landeskompetenzen voneinander scheiden. Aber am Ende wurden die Vetorechte des Bundesrats kaum beschnitten. Und die Länder erhalten kaum größere Spielräume für eigene Politik.

Aber der Versuch der Entflechtung war doch nicht falsch?

Es war der Fehler dieser Föderalismusreform, dass man eine säuberliche Trennung der Zuständigkeiten von Bund und Ländern wollte. Dabei kann es die gar nicht geben.

Warum nicht?

Auch da, wo die Länder allein zuständig sind, gibt es immer Fragen, die bundeseinheitlich oder sogar europäisch geregelt werden müssen. Man bräuchte intelligentere Formen der Arbeitsteilung als die nun gefundenen. Eine flexiblere Verflechtung, die den Landtagen viel Spielraum gibt, aber zugleich verhindert, dass dadurch etwa europäische Belange verletzt werden.

Woran ist die intelligente Lösung gescheitert?

Die Zeit der Beratung hat nicht ausgereicht, um sich bis zu klugen Lösungen durchzudiskutieren. Und es waren die falschen Leute in der Kommission.

Immerhin waren Spitzenpolitiker aus Bund und Ländern dabei.

Bei der Besetzung der Föderalismuskommission sollte sichergestellt werden, dass die Ergebnisse am Ende auch Mehrheiten kriegen. Deswegen waren die Politiker dabei, die am Ende zu entscheiden hatten – alle Ministerpräsidenten und die führenden Leute der Bundestagsfraktionen. Trotzdem, es waren die falschen.

Soll das heißen, dass die politische Elite zu blöde für eine intelligente Staatsreform ist?

Es geht nicht um individuelle Unzulänglichkeiten. Die föderale Verflechtung ist ein sehr komplexes System. Wenn man es wirksam reformieren will, muss man viele Momente gleichzeitig und mit Bezug aufeinander verändern. Wenn aber die unmittelbaren Entscheider an dem Prozess beteiligt sind, kommt das Njet zu früh. Liegt ein Vorschlag auf den Tisch, der bei isolierter Betrachtung aus der Sicht eines der Vetospieler Nachteile hat, braucht der nur sagen: Nicht mit mir! So wandern Lösungselemente vorschnell in den Papierkorb, die man für eine ausgewogene Gesamtlösung bräuchte.

Die Alternative …

… wäre gewesen, dass „Elder Statesmen“, Sachverständige und Beamte einen Gesamtvorschlag entwickeln. Leute also, die die Praxis und die zu berücksichtigenden Interessen kennen, aber die auch die Freiheit haben, über neue Lösungen nachzudenken.

Immerhin schafften es Edmund Stoiber und Franz Müntefering, die bereits gescheiterte Reform noch zu retten.

Nein, so war es nicht. Der Grund, warum die Reform im Dezember 2004 praktisch gescheitert war, lag an den großen und wirtschaftsstarken Ländern Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Denen war das Ergebnis damals insgesamt zu mickrig. Das sind, so schimpfte ein beteiligter hoher Beamter, nur Quisquilien.

Was bedeutet das?

Kleinigkeiten. Die Ländervertreter haben sich geärgert, dass die wichtigsten Gesetzgebungsmaterien immer noch beim Bund blieben, und die Länder nur Kleinkram bekommen. Dafür waren die nicht angetreten. Dass eine kleine Variante der Reform es nun doch bis in Bundestag und Bundesrat geschafft hat, liegt an der Tatsache, dass wir inzwischen eine große Koalition haben

Wenn man den Unterhändlern glaubt, geht es um die größte Verfassungsänderung seit 1949.

Es kommt ja nicht auf die Zahl der geänderten Artikel an, sondern auf deren Bedeutung. Was die Kompetenzen der Länder angeht, ist es ja im Wesentlichen bei den „Quisquilien“ geblieben – mit einer Ausnahme, bei der die Reform aber zu weit geht: Der Bund soll auf alle Zuständigkeiten in der Bildungspolitik verzichten, und er soll die Länder bei ihren Aufgaben auch nicht mehr finanziell unterstützen dürfen. Das dürfte eigentlich kein Bundestag und keine Bundesregierung unterschreiben – und die finanzschwachen Länder auch nicht.

Immerhin profitiert der Bund.

Der Bund hat nicht viel gewonnen: Zwar verliert der Bundesrat sein Veto bei einigen Gesetzen. Zugleich aber soll es neue Vetorechte der Länder in der Finanzverfassung geben. Kurz gesagt: Weder der Bund noch die Länder gewinnen neue, autonome Handlungsmöglichkeiten.

Was macht den Föderalismus made in Germany so immobil und konfliktträchtig?

Dass der Bund fast alle Gesetze macht, und dass die Regierungen der Bundesländer direkt an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt sind. Das ist einzigartig auf der Welt.

Wo ist das Problem?

Dass die Landesregierungen dem Bundesgesetzgeber in die Quere kommen – und ihn sogar blockieren können. Andere föderale Staaten schicken gewählte, also von den Landesregierungen unabhängige Senatoren in die zweite Kammer.

Und bei uns …

… haben die Ministerpräsidenten im Bundesrat immer zwei Hüte dabei. Man weiß nie genau, welchen sie aufsetzen. Da werden regelrechte Theaterstückchen aufgeführt. Einmal treten die Ministerpräsidenten als Landesväter auf, die im Bundesrat tapfer die Interessen ihres Landes vertreten. Das nächste Mal geben sie Parteisoldaten, die im Interesse ihrer Farbe Politik machen.

Warum lieben es die Länder so, im Bundesrat die Muskeln spielen zu lassen?

Sie sind eigene kleine Staatswesen, ja. Aber in Wahrheit können sie selbst wenig entscheiden. Die Länder führen im Wesentlichen die Gesetze aus, die der Bund macht. Wenn wir die Lust zur Blockade in der Länderkammer brechen wollen, müssen die Länder eigene Politikfelder bekommen, in denen sie autonom gestalten können. Dazu brauchen sie weitere Kompetenzen in der Gesetzgebung. Vor allem aber brauchen sie auch größere finanzielle Spielräume.

Immerhin haben die Länder über den Finanzausgleich hervorragende finanzielle Möglichkeiten. Ist das nichts?

Der Finanzausgleich ist gerade ein Teil des Problems. Über so gut wie alle Steuern, die den Ländern zufließen, entscheidet der Bundesgesetzgeber. Im Übrigen sorgt der Finanzausgleich dafür, dass die Einnahmen aller Länder auf das gleiche Niveau gehoben oder gesenkt werden. Was die Finanzen angeht, wird die Politik in den einzelnen Ländern also entmündigt.

Warum das denn?

Wenn ein Bundesland höhere Einnahmen aus Steuern erzielt, bekommt es automatisch weniger aus dem Verteilungstopf. Umgekehrt wird das Land, in dem die Einnahmen zurückgehen, dafür beschenkt. Denn dann müssen die anderen Bundesländer die Lücke ausfüllen. Solange das so bleibt, wäre es also geradezu absurd, den Ländern eigene Gesetzgebungskompetenzen über Steuern zu übertragen.

Klingt komisch, ja. Nur, was heißt das für den Föderalismus?

Solange die Länder keinerlei Einfluss auf die eigenen Einnahmen haben, nutzen ihnen auch eigene Gesetzgebungskompetenzen nicht viel.

Haben sie ein Beispiel?

Nehmen wir die bessere Sprachförderung von Kindern von Zugewanderten. Das wäre ein Gebot der Stunde, alle sind sich da einig. Und die Länder haben ja sogar die Gesetzgebungskompetenz dafür. Aber selbst wenn in einem Land eine Partei an die Regierung käme, die diese Kinder etwa in Kitas und Vorschulen in großem Umfang fördern wollte, müsste der Finanzminister das Programm wieder kassieren. Denn er hätte keine Chance, für diesen guten Zweck die Einnahmen zu erhöhen.

Was tun? Sollte man Abschied nehmen vom solidarischen Föderalismus?

Vor allem müsste man einen anderen Maßstab wählen. Der Finanzausgleich sollte sich nicht an den Steuereinnahmen, sondern an der wirtschaftlichen Stärke der Länder orientieren, also am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Das würde nichts daran ändern, dass man schlecht gestellten Ländern solidarisch unter die Arme greift. Aber es würde den Ländern die Möglichkeit geben, die eigenen Steuern entweder zu erhöhen oder zu senken. Das wäre interessant.

Was würde geschehen?

Dann könnte die Landespolitik darüber entscheiden, was die Bürger denn an öffentlichen Leistungen wollen. Das wären keine Quisquilien oder Spielwiesen. Die Landtage bekämen echte Verantwortung. In Schweden zum Beispiel werden die sozialen Dienste und das Gesundheitswesen zum überwiegenden Teil durch regionale und lokale Einkommenssteuern finanziert. Erst wenn die Landespolitik auch über die Finanzierung entscheiden kann, macht es auch Sinn, die gesetzlichen Kompetenzen der Länder erheblich auszuweiten.

Warum hat man die Finanzordnung in der Föderalismusreform nicht geändert?

Erstens weil die finanzschwachen Länder von vornherein gesagt hatten, darüber wollen wir nicht reden. Überlegungen über eine Umstellung des Finanzausgleichs konnten also gar nicht diskutiert werden.

Was ist das zweite Problem?

Die Unterschiede in der Größe und Wirtschaftskraft der Länder sind groß. Wenn es darum geht, weitgehende Kompetenzen zu delegieren, dann bekommen die kleineren und schwächeren Länder Angst vor der Konkurrenz. Als die Möglichkeit einer eigenständigen Wirtschaftspolitik diskutiert wurde, haben bei den schwächeren Ländern alle Alarmglocken geschrillt – obwohl doch gerade sie nach eigenen Lösungen für ihre besonderen Probleme suchen müssten. An diesen Ängsten ist die Reform gescheitert. Am Ende haben die schwachen Länder zusammen mit den Bundesministerien dafür gesorgt, dass es bei der kleinen Reform blieb.

Nun besitzen die Länder ja bereits eine Reihe von Gesetzeskompetenzen, etwa in der Bildung. Aber man kann nicht sagen, dass sie sich da mit Ruhm bekleckert haben.

Wenn die Länder größere Finanzspielräume hätten, müssten bundeseinheitliche Lösungen in der Bildungspolitik nicht notwendigerweise besser sein als baden-württembergische oder andere hamburgische. Aber es gibt in der Tat ein Argument für die Rolle des Bundes, das ist die Freizügigkeit, die Mobilität.

Wie würde eine intelligente Arbeitsteilung in den Bildungsfragen aussehen: Alles dem Bund?

Nein, das wäre nicht sinnvoll. Die Länder sollen ruhig in den Schulen und Hochschulen das Sagen haben. Allerdings wäre eine starke bundeseinheitliche Evaluierung nötig, eine Art Pisa plus – verbunden mit der bisher unbekannten Möglichkeit des Bundes, Länderaufgaben – und nicht nur Investitionen in Beton – fördern zu können.

Hieße das, dass der Bund Länder fördern darf, die etwa eine extreme Konzentrationen von Risikoschülern haben, um die Chancengleichheit der Bürger zu wahren?

Ja, und zwar ohne dass Baden-Württemberg die gleichen Mittel in Anspruch nehmen muss. Der Bund muss gezielt Problemländer fördern können und es muss zugleich ein Berichtssystem geben, mit dem die Nation sich darüber verständigt, wie gut eigentlich das bayerische und das bremische Bildungssystem funktionieren.

Empfinden Sie eigentlich Bitterkeit, wenn Sie sehen, wie unterkomplex und ineffizient die Föderalismusreform aussieht.

Nein, für mich als Wissenschaftler ist auch das ein interessantes Studienobjekt. Aber ich habe nicht verhindern können, dass man in der simplen Trennung der Kompetenzen den einzigen Weg zu einer Lösung sah. Da frage ich mich, ob deutlichere Argumente daran etwas hätten ändern können.