Lob der Entlastungsstraße

Die stillgelegte Straße durch den Tiergarten ist die schönste Skaterstrecke der Stadt. Tausende Quadratmeter liegen mitten in Mitte brach. Zum Glück ohne Zwischennutzung

Pssst. Die 109 Zeilen Text, die hier stehen, müssen unter uns bleiben. Denn noch wissen sie nicht Bescheid. Noch sind sie nicht aufgetaucht, mit ihren seltsamen Kunstprojekten und ihren „Eignet euch den öffentlichen Raum an“-Aktionen. Noch hat die Zwischennutzungsszene, die durch den gedankenlosen Palastabriss heimatlos geworden ist, keinen Wind von der Sache bekommen.

Zum Glück. Die paar tausend Quadratmeter feinsten öffentlichen Raumes, die gerade mitten in Mitte brachliegen, sind ohne Zwischennutzung – so aufregend sie sonst sein mag – viel schöner. Seit der Öffnung des Tiergartentunnels Ende März ist die Entlastungsstraße für Autos gesperrt – und nun nicht nur die wohl schönste Fahrrad- und Skatestrecke der Stadt. Sondern auch die ruhigste, die größte und die grünste. Wer von der Straße des 17. Juni in die stillgelegte Straße einbiegt, lässt nicht nur den Verkehr hinter sich. Der Straßenlärm ebbt ab, das Gezwitscher der Vögel gewinnt die Oberhand. Es duftet nach Gras, Blumen, Sommer und ein wenig nach heißem Asphalt.

Über den rollt zum Beispiel Albrecht Heindel, 30 Jahre alt, ein schmaler Mann mit langen dunklen Haaren und professionellen Schonern an allen wichtigen Gelenken. „Es ist der ideale Ort zum Üben, zentral und mitten im Park. Außerdem braucht man keine Angst zu haben, ständig Touristen umzufahren“, sagt Heindel.

Bei all dem kann man ihm nur zustimmen. Gerade probt er, mal den einen, mal den anderen Fuß mit seinem Gewicht zu belasten. Wo anders ginge dies besser als auf der Entlastungsstraße? Die wird – endlich vom Verkehr entlastet – ihrem Namen gerechter denn je. Sollte sie dereinst auf den verstopften Straßen rund ums Brandenburger Tor für Entspannung sorgen, erleichtert sie nun den Menschen, die sie neu entdecken, den Alltag.

Ein weißhaariger Herr fährt freihändig auf seinem Fahrrad daher, in der Mitte der rechten Spur, Platz gibt es ja genug. Er kenne viele, erzählt er, die das jetzt tun. Er muss vom Wedding in die Amerika-Gedenk-Bibliothek in Kreuzberg. Und er spart fünf Minuten, wenn er schnell fährt. Der Asphalt ist makellos, sein Rad surrt beim Fahren leise.

Auf den Wiesen links liegen Studenten, ihre Inlineskates haben sie kurz abgenommen. Die Entlastungsstraße gibt beidem Raum: der Be- und Entschleunigung des Lebens. Die Radfahrt auf ihr hat nichts mit der rationalen Fortbewegung im normalen Verkehr gemein, mit Schulterblick, Handzeichen und hupenden Blechkisten. Welcher Radfahrer träumt nicht mal davon, im ungehemmten Slalom so schnell um Mittelstreifen zu kurven, dass sich ungeahnte Fliehkräfte entfalten können?

Auf der Entlastungsstraße sind Experimente erlaubt, ja Pflicht. Bei einer fünfminütigen Verkehrszählung in herrlicher Sonne ergab sich folgendes Bild: ein Fahrradfahrer (schnell), ein Fahrradfahrer (langsam), zwei Touristen (zu Fuß). Die Entlastungsstraße wird also ähnlich stark frequentiert wie der Tunnel ein paar Meter tiefer. Was beim einen die Verkehrsplaner der Behörden in den Wahnsinn treibt, entpuppt sich bei der Entlastungsstraße als Segen.

Leider, wie eingangs erwähnt, geht es hier um Zwischennutzung. Lange wird es die Straße nicht mehr geben (siehe Kasten). Skater und Radfahrer dieser Stadt, kommt also zur Entlastungsstraße! Ehe es zu spät ist.

ULRICH SCHULTE