Aufstieg am Rande des Kessels

PERSÖNLICHE ERINNERUNG 1986 waren Politik und Fußball am Millerntor noch getrennte Welten: Während neben dem Stadion Atomkraftgegner von der Polizei eingekesselt wurden, jubelten im Stadion die Fans

Drei Jahre später wäre der Protest gegen den Kessel ins Stadion hineingetragen worden

Das Bild, das uns an jenem 8. Juni 1986 erwartet, als wir am Bahnhof Feldstraße in Richtung Stadion abbiegen, verschlägt uns den Atem. Mitten auf dem Weg zum Millerntor, gleich neben dem Feldstraßenbunker, drängen sich hunderte Demonstranten aneinander, eingepfercht von mehreren Hundertschaften der Polizei.

Rund um diese Ansammlung, die als „Hamburger Kessel“ in die Geschichte eingehen wird, stehen ein paar St. Pauli-Fans, die versuchen, Ruf-Kontakt mit den Eingeschlossenen aufzunehmen. In dem Kessel erkenne ich einige Freunde, mit denen ich am Tag zuvor Richtung Brokdorf aufgebrochen war, um gegen das dort im Bau befindliche AKW zu demonstrieren. Die Polizei hatte uns – und viele tausend Atomkraftgegner mehr – in Kleve gestoppt und so das Demonstrationsrecht verwehrt. Dagegen sollte an jenem Sonntag an der Feldstraße demonstriert werden.

Doch die fast 900 Demonstranten waren nicht weit gekommen. Gegen Mittag hatte die Polizei sie eingeschlossen, um sie alle in polizeiliches Gewahrsam zu nehmen. Später sollten die verantwortlichen Polizeiführer vom Landgericht wegen 861-facher Freiheitsberaubung verwarnt werden.

Im Kessel gibt es nichts zu essen, nichts zu trinken und keine Chance, die Notdurft zu verrichten. Nur wenige St. Pauli-Fans harren außerhalb des Kessels aus, wollen nicht ins nur 200 Meter entfernte Stadion, während hier Freunde und Bekannte gefangen gehalten werden. Die meisten aber setzen ihren Weg fort, schließlich kann an diesem Tag die Vorentscheidung um den Aufstieg in die zweite Liga fallen.

Ich bin Minuten lang paralysiert. Wie kann das Spiel stattfindet, während hier hunderte Menschen, von denen ich viele schon im Stadion gesehen habe, über Stunden festgehalten werden? Schließlich bahne ich mir den Weg zur Haupttribüne und sehe noch, wie André Golke zum frühen 2:0 abschließt. Intuitiv juble ich mit, lasse aber meine Arme sofort wieder sinken. Das passt gerade nicht.

Ich nehme Kurs auf die Sprecherkabine. Ordner wollen mich aufhalten, doch schließlich lässt man mich durch. In dem Kabuff rede ich auf den Stadionsprecher ein. Versuche ihm zu erklären, was sich da vor den Stadiontoren abspielt, bemühe mich, zumindest mit einer Stadiondurchsage auf die Situation aufmerksam zu machen. Wenn sich zumindest der noch sehr übersichtliche Hafenstraßen-Block aus der Gegengerade zu dem Kessel aufmachen würde, hätte die Polizei vielleicht Probleme, diese Massen-Ingewahrsamnahme fortzusetzen.

Doch der Stadionsprecher winkt ab. Er könne nicht beurteilen, was sich da draußen abspiele und nicht verantworten, die Zuschauer darauf hinzuweisen. Dann werde ich gebeten, die Sprecherkabine zu verlassen.

FC St. Pauli-Chronologist René Martens wird über diesen 8. Juni 1986 in seinem Buch „You’ll never walk alone“ resümieren, dem Tag käme in der Vereinsgeschichte „eine große Bedeutung zu. Fußball und politischer Protest fanden an diesem Tag örtlich nah beieinander statt – und dennoch völlig unabhängig voneinander. Das zeigt, dass sich die Fans des FC zu dieser Zeit noch nicht wesentlich von denen anderer Clubs unterschieden. Zwei, drei Jahre später aber wäre der Protest gegen den Kessel ins Stadion hineingetragen worden.“

Nachzutragen bleibt, dass das Hamburger Verwaltungsgericht den Kessel später als rechtswidrig einstufte und jedem eingeschlossenen Demonstranten 200 Mark Schadensersatz zusprach. Der FC St. Pauli qualifizierte sich übrigens für die zweite Liga. Die vorentscheidende Partie wurde mit 3 : 1 gewonnen.

MARCO CARINI