Die Kultur der Ausrede

Heide Simonis begründet ihren Rückzug aus der Show „Let’s Dance“ mit einem Kreislaufkollaps. Das ist nicht schön für sie – vor allem weil ihr niemand glaubt. Woher rührt das Misstrauen gegen Atteste?

VON JAN FEDDERSEN

Nur einen Moment noch war sie von der Heiligsprechung zur Kultfigur entfernt, die ehemalige Ministerpräsidentin Schleswig-Holsteins, Heide Simonis. Tanzte einige Abende in der TV-Show „Let’s Dance“ aller Öffentlichkeit vor, was man macht, um einem guten Zweck zu dienen. Mobbing („wie kann sie nur“) und Gehässigkeiten („ungelenk“) in Boulevardmedien hatte sie sogar ausgehalten, weil sie, bekannte sie (taz vom 5. Mai) ihre Gage und wohl noch etwas drauf für Unicef sammelte. Und dann stornierte sie ihren Auftritt, weil sie einen Kreislaufkollaps erlitten habe.

Das versteht, natürlich, jeder und jede – so viel Mist gegen sich kann auch eine wie diese Politikerin nicht aushalten. Aber das verstand man nur in der öffentlichen Rede so – in Wirklichkeit, in der Fantasie, im Mutmaßen und im beiläufigen Spekulieren, wusste man sofort: Die hat blau gemacht, die hat sich einen gelben Zettel, also ein ärztliches Attest besorgt, die tut nur unpässlich. In Wahrheit ist sie eingeschnappt, waidwund und des Widerstands gegen die publizierte Meinung nicht mehr mächtig.

Woher das Misstrauen rührt? Aus eigener Erfahrung. Von jedem, von jeder. Die kleinen Flunkereien und Lügen des Alltags haben alle im Arsenal. Kleinkinder den Schnupfen, der kaum mehr als eine laufende Nase ist – damit Mama (oder Papa) sich um einen besorgter kümmert; Schüler den Husten, der einen vor der Klassenarbeit bewahren soll oder vor den fiesen Jungs (den Mädchen), die einen auf dem Schulhof heimsuchen. Flucht in die Krankheit mag man das nennen, besser wäre vielleicht: kleine Eskapaden aus dem, was die Regel oder das Vereinbarte ist.

„Ich fühl mich nicht so“

Große Meisterschaft in dieser Hinsicht haben alle abhängig Beschäftigten entwickelt, die darauf vertrauen dürfen, erst am dritten Krankheitstag eine ärztliche Bescheinigung vorlegen zu müssen. „Ich fühl mich nicht so“, „Mir geht es nicht so gut“, „Meine Milz kollert“, „Ich habe die ganze Nacht gekotzt“ oder „Migräneanfall, akut“ sind nur fünf Sätze aus einer Enzyklopädie von Entschuldigungen, die man hier zitieren könnte. Niemand würde sagen: „Keine Lust“, „Das Wochenende sollte einfach noch nicht enden“ oder „echt kein Prüfungstag heute“. Das lassen die Verhältnisse des Verabredeten nicht zu – also bleibt nur die mehr und mehr differenzierte Kultur der Ausrede.

Alle wissen um ihre Regeln und Codes, weil sie selbst auf die Technik der Verleugnung von dem, was Sache ist, schon zurückgegriffen haben. Ein Recherchevorgang bei Google, bei dem in die Suchmaske nur die Worte „Entschuldigung“ und „Krankheit“ eingetragen werden, belehrt, dass die technische Moderne auch das Freisprechwesen (denn das verbirgt sich hinter dem Vorgang des Entschuldigens) erreicht hat. Man kann schon auf der ersten Seite Formulare anklicken – allgemeine, die kostenpflichtig sind, spezielle von Schulen.

Die andere Schuldisziplin

Was Assoziationen nur so beflügelt, die Erinnerungen an Tage des Schülerhaften. An den Neid, da nur die Mädchen „Ich hab meine Tage“ angeben konnten, um dem Sportunterricht sich zu entziehen; auch Gedanken an die Leichtigkeit, mit der man auf ein zerknüddeltes Stück Papier als eben 18-Jähriger „Grippaler Infekt“ notierte und jeder Lehrer das respektieren musste. Manche Schüler, gestern wie heute, waren und sind natürlich ambitioniert, besonders raffinierte Gründe zu finden. Was nicht verurteilt werden darf, weder moralisch noch betriebswirtschaftlich oder schuldisziplinär. Denn Feingefühl zu kultivieren ist ja überhaupt eine Übung für das echte Leben: „Meine Mutter hat mich traumatisiert“, „Ich musste meine kranke Schwester pflegen“, „Mir war übel“ oder „Mein Nacken war so verfestigt, dass ich nicht schlafen konnte“.

Das gesamte soziale Muster der alltagsfähigen Lüge lebt von Doppelbödigkeit – wenn sie denn zugelassen wird. Die Abschaffung der Karenztage für Arbeitnehmer hätte in diesem Land wohl mehr Rebellion bewirkt als alles sonst: Nicht einmal die, volkswirtschaftlich betrachtet, mikroskopisch gering messbaren Absenzen ohne Urlaubstagverschwendung werden einem gelassen – das hätte der Kränkung, im Tagesablauf meist abhängig zu sein, noch die Linderungschance genommen.

Heide Simonis wird damit leben können, dass man ihr in der Fantasie von Abermillionen unterstellt, gekniffen zu haben. Ist schon okay. Sie hatte ihre – wohl verständlichen – Gründe. Und einen entscheidenden Vorteil: Im Gegensatz zu anderen Schwänzern muss sie ihre Tanzprüfung nicht nachholen.