„Das Matriarchale sitzt im Bauch“

Papa ante portas, und das, obwohl Angela Merkel Bundeskanzlerin ist: Angeblich droht die weltweite Wiederauflage des Patriarchats. Nur im mexikanischen Juchitán haben noch immer die Frauen das Sagen, die Sozialanthropologin Veronika Bennholdt-Thomsen fragt sich, wie lange noch

INTERVIEW MICHAEL AUST

taz: Frau Bennholdt-Thomsen, was ist das Besondere an Juchitán?

Veronika Bennholdt-Thomsen: Dass es innerhalb von Mexiko – einem Land, das für den Machismo, den Männlichkeitswahn also, bekannt ist – eine Gegend ist, in der Frauen deutlich sichtbar eine starke gesellschaftliche Position haben.

Woran liegt das?

Die Wirtschaft ist wirklich in Frauenhand, und zwar in dem Sinne, dass die Frauen mehr oder minder alle Händlerinnen sind. Auch eine Lehrerin ist nebenbei Händlerin, etwa für Goldschmuck. Das kommt daher, dass sich die Frauen dieser Gegend als besonders begabt für den Handel verstehen.

Wie sieht denn das Wirtschaftsleben in Juchitán aus: Sind die Männer zu Hause, während die Frauen arbeiten?

Nein, überhaupt nicht! Es gibt eine geschlechtliche Arbeitsteilung. Die Männer sind Bauern, Fischer, Lohnarbeiter oder Handwerker. Auch Frauen betreiben letztlich ein Handwerk, vor allem das Lebensmittelhandwerk, aber das allgemeine Bewusstsein ist, dass Frauen am besten mit dem Handel umgehen können. Deshalb liefern die Fischer, Bauern und Handwerker ihre Rohstoffe an die Frauen, und die sorgen für Verarbeitung und Vermarktung. Im Unterschied zu anderen Regionen von Mexiko verfügen in Juchitán die Frauen nicht nur über ihr eigenes Geld, sondern verwalten das Geld insgesamt – auch das der Männer. Der Lohnarbeiter gibt in der Regel seinen Lohn in die Hände der Frau, und sie macht nach seiner Überzeugung das Beste daraus.

Wieso hat sich dieses System gerade in Juchitán entwickelt?

Schon die Quellen der Conquista machen deutlich, dass bereits in vorspanischer Zeit besonders viele Frauen politische und religiöse Repräsentantinnen in dieser Gegend waren. Juchitán als Verkehrsknotenpunkt war immer Handelszentrum, von Anfang an waren dabei die Frauen wichtig. Sie haben auch eine große Rolle in den Rebellionen der Kolonialzeit gespielt – in den Quellen werden sie als besonders aufrührerisch geschildert.

Würden Sie die Wirtschaftsform, die es heute noch in Juchitán gibt, als Matriarchat bezeichnen?

Auf jeden Fall ist es eine ganz besondere Gesellschaftsstruktur, die in der Gegenwart nur noch selten anzutreffen ist, eine mütterlich geprägte, also eine versorgungs- und eben frauengeprägte Wirtschaft. Im Zentrum stehen nicht der abstrakte Tausch, die Konkurrenz und das Gewinnstreben, sondern die Menschen und der Austausch zwischen ihnen. Aber mit dem massiven Einzug der Globalisierung werden viele dieser matriarchalen Strukturen zunehmend unterminiert.

Welche Folgen hat diese besondere Wirtschaftsform für das Zusammenleben der Geschlechter?

Die unterdrückerische Machtausübung des Machismo fehlt. Das merken selbst die reisenden Frauen: Es ist in Mexiko der einzige Ort, an dem sie nicht ständig als die blonden, Latin-Lover-suchenden Frauen angemacht werden. Europäische Reisende, vor allem deutsche, sind zum Teil immer wieder dorthin gekommen genau aus diesem Grund.

Sie beschreiben in Ihren Büchern auch ein drittes Geschlecht, die so genannten „Muxe“, sprich: Musche …

Auch dafür ist Juchitán berühmt. Homosexualität gibt es zwar überall in Mexiko, aber die wird im Machismo diffamiert. In Juchitán ist es umgekehrt: Männer, die sich als Frauen verstehen und geben, sind dort hoch angesehen und gelten als besonders fleißig. Sie tun die Frauenarbeit und das besonders gut, um sich dadurch als das Geschlecht zu etablieren, das sie sind, jenes dritte: die Muxes. Wobei ich davor warne, dies mit Homosexualität gleichzusetzen.

Warum?

Weil der Partner eines Muxe wirklich als Mann verstanden wird, also nicht als homosexuell oder als Muxe. Der gehört ganz normal zum heterosexuellen Gefüge. Wollte man das heterosexuell interpretieren, könnte man sagen, die Muxes schlagen sich auf die Frauenseite.

Vor kurzem waren Sie wieder in Juchitán. Was hat sich verändert?

Ich war nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder in Juchitán und war ziemlich erschrocken und traurig über das, was sich da jetzt abspielt. Unsere Studie („Juchitán – Stadt der Frauen“, 1994; Anm. d. Red.) haben wir ja von 1990 bis 1992 durchgeführt, vor dem Eintreten Mexikos in den gemeinsamen Markt mit Kanada und den USA 1994. Die Marktebene, die bislang die matriarchalen Strukturen getragen hat, wird unterhöhlt. Die schnellen Konsumgüter und Weltmarktprodukte haben in Juchitán Einzug gehalten. Man findet in der Stadt jetzt einen Ramschladen neben dem anderen. Im Dezember hat ein Wal-Mart eröffnet – am ersten Tag wurde er erst um ein Uhr nachts wieder geschlossen und hat an diesem Tag eine Million Euro umgesetzt.

Ist es nicht naiv zu glauben, dass es den handelnden Frauen in Juchitán nicht auch um Profitmaximierung geht?

Es geht ihnen um Wirtschaften, es geht ihnen um Gewinn und es geht um ein Einkommen und ein Auskommen. Das ist aber etwas anderes als Profitmaximierung. Die Lohnarbeit hat dort bislang nicht Einzug gehalten. Auch Händlerinnen, die sehr wohlhabend sind, zielen nicht darauf ab, Lohnarbeiterinnen anzustellen, die ihnen die Expansion und eine Profitmaximierung erst ermöglichen würden. Der Handel ist für die Frauen nach wie vor auch ein handwerkliches Tun, und sie sind stolz darauf. Dadurch entfällt eine der wichtigen Voraussetzungen für Profitmaximierung – die Ausplünderung der Arbeitenden. Aber leider gibt es in der Gegend gar nicht das Bewusstsein über das, was die Besonderheit dieser Ökonomie und dieser Kultur ausmacht. Es gibt natürlich Stolz auf die Eigenart, aber die Zusammenhänge sind wenig geläufig. Deshalb wird der Wal-Mart bis jetzt von den Frauen auf dem Markt nicht gefürchtet – noch nicht. Aber der Sündenfall ist längst passiert: Auch in Juchitán hat das abstrakte Kriterium des billigen Preises Einzug gehalten.

In Ihrem Buch „JuchitánStadt der Frauen“ schreiben Sie, Juchitán sei kein Modell, könne aber ein anderes Verständnis von Ökonomie vermitteln. Was meinen Sie damit?

Bei dem Wort Modell kriege ich immer die Krise! Lange ging es immer darum, das westliche Entwicklungsmodell der ganzen Welt zu oktroyieren, und die Zwangsmaßnahmen, die der internationale Währungsfonds und die Weltbank ausgeübt haben, hatten zur Folge, dass es den Menschen in vielen Weltgegenden wesentlich schlechter geht.

Die aufgeklärte Linke weiß natürlich um den Imperialismus und die Entwicklungspolitik.

Vorgeblich! Denn es ist doch nur die andere Seite derselben Medaille, wenn man dann wieder nach dem alle selig machenden neuen Modell fragt. Obendrein ist und bleibt diese Sicht rassistisch, wenn man sie einfach umdreht und fragt: Wo sind denn die guten Wilden? Wo ist die heile Welt? Könnte die vielleicht unser Modell sein? Denn wo bleibt da der echte Respekt vor dem Anderen, die Hochachtung vor der Vielfalt? Wo bleiben die gleiche Augenhöhe und die aktive Verantwortung für die Gestaltung der eigenen Gesellschaft? Es gibt eben keine heile, matriarchale Welt, kein exotisches Reservat, das es zu beschützen gälte.

Okay, es ist kein Modell. Aber was kann man von Juchitán lernen?

Wir haben heute überhaupt keine Ahnung, wie nichtpatriarchale Strukturen gegenwärtig aussehen können. Dieses Anschauungsmaterial bietet uns Juchitán nach wie vor. Es geht um die gesellschaftlichen Mechanismen, nicht nur um die ökonomischen – die Trennung zwischen Gesellschaft und Ökonomie ist ja in sich schon eine Zuspitzung der patriarchalen Verhältnisse. Juchitán kann unsere Fantasie anregen.

Würden Sie eine Gesellschaft, in der Frauen in den gesellschaftlich anerkanntesten Positionen arbeiten, auch als Matriarchat bezeichnen – beispielsweise ein Land, in dem eine Frau Bundeskanzlerin ist?

Ach du liebe Zeit! Wie kommen Sie denn auf die Idee? Bloß weil der Bundeskanzler eine Frau ist? Das biologische Geschlecht allein ist doch kein Garant für gar nichts. Es wird immer, überall und in allen Zeiten gesellschaftlich-kulturell, vor allem auch ökonomisch definiert. Auch biologische Mütter können äußerst patriarchal sein. Das Matriarchale sitzt im Bauch und im Kopf, aber vor allem in den Beziehungen zwischen Mensch und Natur.