Nur herumgestanden

LEXIKON Die Dokumentation der NS-Täter war Ernst Klees Lebenswerk. „Auschwitz“ ist das letzte biografische Nachschlagewerk des Historikers

Klee leistete hier regelrechte Pionierarbeit und wertete erstmals Akten- und Quellenbestände aus, die akademische Historiker bislang ignorierten

VON RUDOLF WALTHER

Sein letztes von über einem Dutzend Büchern hat der Journalist, Filmemacher und Historiker Ernst Klee buchstäblich dem Tod abgerungen. Bis kurz vor seinem Tod am 18. März dieses Jahres hat er an „Auschwitz – Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde“ gearbeitet. Klee, der gelernte Heizungstechniker, Theologe und Sozialpädagoge war als Historiker „ein produktiver Außenseiter“, wie Werner Renz vom Frankfurter Fritz Bauer Institut sagt.

Seine ersten Arbeiten beschäftigten sich mit Behinderten, seelisch Kranken, Außenseitern und Häftlingen. Erst Anfang der 80er Jahre begann Klees Erforschung des Nationalsozialismus und der Ermordung von Tausenden von Behinderten unter dem euphemistischen Namen „Euthanasie“ oder der zynischen Parole „Vernichtung unwerten Lebens“.

Das Thema ließ ihn nicht mehr los. Klee leistete hier regelrechte Pionierarbeit und wertete erstmals Akten- und Quellenbestände aus, die akademische Historiker bislang ignorierten. Dass Klees Forschung beachtet wurde, ist auch das Verdienst von Walter Pehle, dem wissenschaftlichen Lektor beim Verlag S. Fischer, der dem Autor die Treue hielt.

Im letzten Abschnitt seines produktiven Schaffens entdeckte Klee die lexikalische Darstellung als die seiner Methode gemäße Form. Mit dem „Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945“ (2003) und dem „Kulturlexikon zum Dritten Reich“ (2007) schuf er Standardwerke zur Geschichte der nationalsozialistischen Herrschaft.

Auch sein letztes Buch über Auschwitz ist lexikalisch angelegt und verzeichnet die Kurzlebensläufe von 4.043 Personen, davon 3.621, die als Täter zu bezeichnen sind oder dem täternahen Umfeld angehörten. Zu diesen beiden Personengruppen, die in Auschwitz tätig waren, gehörten nach Klees Schätzung insgesamt rund 7.000 SS-Männer und 200 weibliche Aufseherinnen.

Nur ein Bruchteil von ihnen wurde nach 1945 juristisch zur Rechenschaft gezogen. Und hier trafen sie oft auf sehr nachsichtige Richter. Während Häftlinge als Zeugen zum Beispiel im großen Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1963–1965) oft auf Unverständnis stießen und als „unglaubwürdig“ galten, entzogen sich Täter mit hanebüchenen Ausflüchten der Verantwortung.

Der Hannoveraner Zahnarzt Willi Schatz etwa, der noch im Januar 1945 zum Obersturmführer (Oberleutnant) befördert wurde, wurde im Frankfurter Auschwitz-Prozess freigesprochen, weil man ihm glaubte, bei der Selektion der Häftlinge habe er „auf der Rampe nur herumgestanden“. Auf überlebende Zeugen wirkte ein solcher Satz und der darauf folgende Freispruch aus Mangel an Beweisen wie ein Hohn.

Niederschmetternd ist nach wie vor nicht nur die Rolle der deutschen Justiz nach 1945, sondern auch das Schicksal jener unglücklichen Menschen, die im Lager zu Hilfsdiensten verpflichtet wurden.

Die 1915 geborene Sekretärin Regina Lebensfeld wurde in der politischen Abteilung (Lager-Gestapo) als Schreibkraft eingesetzt. Sie überlebte und berichtete: „An meinem ersten Tag in der Schreibstube der Kommandantur bekam ich eine Totenliste in die Hand, die zeigte, dass mein Ehemann, Eduard Lebensfeld, am 22. August 1942 an Phlegmone und Komplikationen durch eine Vergiftung gestorben war.“

Ernst Klees letztes Buch ist mehr als ein Nachschlagwerk. Es ist ein Vermächtnis an gegenwärtige und zukünftige Historiker, sich Opfern von Unrecht und Gewalt gegenüber nicht stumm und taub zu stellen.

Ernst Klee: „Auschwitz. Täter, Gehilfen, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 512 Seiten, 24,99 Euro