Schlimmer Finger

Dr. K. war ein Mann mit einem geordneten Leben. Diese Ordnung hat vor fünf Jahren ihren Sinn verloren

AUS ZEHDENICK ANJA MAIER

Die Hand. Der Angeklagte versteckt sie im langen Ärmel seiner olivgrünen Windjacke. Schwarze Hose, weißes Hemd, lichtes Stoppelhaar – der 55-Jährige bestätigt keines der landläufigen Klischees über den noblen Ärztestand. Mit seinem mächtigen Bauch würde er kaum in einen Porsche passen. Eher in einen praktischen, geländegängigen Wagen – gerade so groß, dass das Angelzeug reinpasst, eine Kiste Bier fürs Wochenende, vielleicht ein Hund. Er schaut aus wie ein Handwerker, wie er da sitzt, die linke Hand fest in die rechte verpackt, vielleicht ein Schlosser, der weiß, wie man eine Sache anpacken muss, damit sie funktioniert. Wie geschmiert.

Dr. Friedemann K. hat eigentlich stets gewusst, wie man Dinge geschickt anpackt. Als Krankenhausarzt hat er in einer brandenburgischen Kleinstadt die Chirurgie geleitet, er hat Unfallopfer zusammengeflickt, Menschen von Schmerzen befreit, die Chance auf den Chefarztposten „war gegeben“, erzählt er mit leiser Stimme dem Richter am Amtsgericht Zehdenick. Er war ein respektierter Mann in einer überschaubaren Welt. Hat fünf Kinder großgezogen, seine Frau geliebt, ein Haus in Kliniknähe bewohnt, ein Seegrundstück für die Wochenenden gehabt. Aber diese Ordnung hat ihren Sinn verloren.

Denn es gab vor fünf Jahren diesen üblen Zwischenfall mit der Säge, heute hat er dieses Strafverfahren wegen versuchten schweren Betruges am Hals. Aus Doktor K., dem Kandidaten auf den Chefarztposten, war „Doktor Siebenfinger“ geworden – der Chirurg, der sich die linke Hand selbst verstümmelt haben soll, um hohe Versicherungen zu kassieren. Vor drei Jahren hat einer von der Bild-Zeitung über den Fall geschrieben, hat diesen Namen auf den Markt geworfen: Doktor Siebenfinger. Ein griffiger, ein falscher Name, sechs Finger hat Friedemann K. noch. An diesem Tag wurde der Mann zum Boulevardthema.

Er soll schildern, was vor fünf Jahren geschehen ist. Jedes Detail ist wichtig, denn Friedemann K. hatte seine Chirurgenhände gut versichert, bei fünf Gesellschaften. Zwei Millionen Euro will er haben. Aber die Versicherungen zahlen nicht, denn sie rechnen kühl und haben gleich nach der Schadensmeldung einen gemeinsamen Gutachter beauftragt, schließlich gehören sie alle dem gleichen Berufsverband an. Der Rechtsmediziner von der Uni Mainz kam zu dem Schluss, dass die Finger nicht mit einer Kettensäge, sondern fachgerecht abgetrennt wurden. Ein für die Versicherungen äußerst kostengünstiger Befund, alle weigerten sich zu zahlen.

Friedemann K. hat daraufhin jede Assekuranz einzeln verklagt. Zwei Zivilverfahren wurden bereits abgewiesen – er hat Berufung eingelegt. Er beharrt darauf: Es war ein Unfall. Schließlich schaltete sich auch noch die Staatsanwaltschaft ein. Sie ermittelte gegen ihn und seine Frau und klagte beide an, wegen besonders schweren versuchten Betruges in zehn Fällen. Zehn, weil die Sache inzwischen fünf Versicherungen und fünf Gerichte beschäftigt. Für K. geht es also bei diesem Strafverfahren in Brandenburg weniger ums Geld als um die Frage: Ist er ein skrupelloser Betrüger oder ein Mann, der um sein gutes Recht kämpft? Weist ihm das Gericht eine Schuld nach, muss er ins Gefängnis. Wird er freigesprochen, wäre seine Position enorm gestärkt – gegenüber den Versicherungen, gegenüber seinem heutigen Arbeitgeber, einer Klinik, wo er die Notfallambulanz leitet. Vor allem aber böte ihm ein Freispruch die Chance auf Rückkehr in die alten Sicherheiten. Vertrauen, Leumund, das sind Kategorien, die in einer Kleinstadt etwas zählen.

Der 17. Juni 2001 war ein lauer Frühsommersonntag. Friedemann K. und seine Frau Hiltrud hatten den Nachmittag auf ihrem Seegrundstück verbracht, sie hatten ein bisschen im Garten gefummelt, Kaffee getrunken, was ein älteres Paar halt macht am Wochenende. Gegen Abend, sie wollten bald nach Hause fahren, schlug K. seiner Frau vor, noch einen Baumstamm zu Feuerholz zu zersägen, er habe im Schuppen eine geliehene Motorkettensäge. „Ich halte den Stamm fest, du sägst“, habe er zu ihr gesagt. Sie wollte erst nicht. „Aber ich habe zu ihr gesagt, das kann jedes Kind.“

Was dann geschah, war entweder eine Straftat oder ein Unfall, in jedem Fall ein Blutbad. Er habe die Kettensäge angelassen, sie so, röhrend und rotierend, seiner Frau gereicht, dann mit beiden Händen das Holz festgehalten, schildert er den Hergang. „Dann waren da die Hornissen.“ Seine Frau habe in Panik vor den brummenden Insekten die Säge verrissen, sei gestolpert. „So ist es leider zur Abtrennung gekommen.“ Der Satz klingt, als rede der Angeklagte über eine Ungeschicklichkeit beim Weihnachtsbasteln, nicht über seine linke Hand. Man kann sie sehen, wenn er sie hin und wieder aus der Umklammerung seiner rechten entlässt: ein Daumen und breite Fingerstummel, ein trauriger Anblick.

K.s Schilderung wird ab jetzt ein bisschen kompliziert, man muss gut zuhören. An manches kann er sich genau erinnern, an vieles kaum oder nicht. Alles sei voller Blut gewesen, sagt er, seine Frau habe geschrien. Sie, von Beruf Krankenschwester, habe ihm die Hand verbunden und ihn ins Krankenhaus gefahren. Nein, Schmerzen habe er nicht gespürt – die Panik.

Der Richter fragt nach: Warum er die abgetrennten Fingerspitzen nicht in die Klinik mitgenommen habe. Ja eben, die Panik, sagt K., spricht von einer „Masse, die vor dem Stamm lag“. Er habe „gleich gesehen, dass da nichts mehr zu replantieren“ sei. „Ich weiß“, sagt K., „das wirft man mir vor als Chirurg.“ In diesem Moment heult auf der Straße eine Motorsäge auf, der Kirchplatz wird gepflastert. Im Saal 6 klirren leise die Scheiben.

Der Richter weiß, dass der Angeklagte alle Fragen schon oft beantwortet hat. Aber allein sie zu stellen offenbart die Schwachstellen seiner Version. Ein Chirurg, „Hobbyhandwerker“ nennt er sich, lässt seine Frau einen Stamm durchsägen – warum sie? Als vier seiner Finger ab sind, vergisst er, die Reste ins Krankenhaus mitzunehmen? Und als er 14 Tage später nach Hause entlassen wird, fährt er sofort zum Tatort und reinigt die Säge von Blutspuren?

Die zentrale Frage aber ist: Warum hat der Mann fünf Versicherungen? „Absolut ungewöhnlich“ nennt das ein Sprecher der Falk-Gruppe, einer der führenden Arzt-Versicherer in Deutschland, „üblich ist eine.“ Ärzte versichern ihre Hände mit einer so genannten Gliedertaxe: verlieren sie einen Daumen oder Zeigefinger, werden 60 Prozent der Versicherungssumme fällig, jeder weitere macht 20. So gerechnet, hätte Friedhelm K. schon bei drei Fingern 100 Prozent kassiert, oder zwei: Daumen und Zeigefinger. Warum also vier Finger?

Das spräche doch für seinen Mandanten, sagt Anwalt Marco Eicher. Überhaupt würden Ärzte von den Versicherern zu Mehrfachabschlüssen verführt, so billig seien die Policen. Folgt man seiner Argumentation, müssen sich bei Friedemann K. die Vertreter die Klinke in die Hand gegeben haben. 1995 hat er allein drei Verträge bei der Ärzteversicherung geschlossen, bei der R+V eine weitere. Die nächsten beiden 1998 und 1999 bei der LVM und der Karlsruher, anderthalb Jahre vor dem verhängnisvollen Tag am See noch eine bei der Viktoria. Das Dreierpaket von 1995 hat er sechs Monate davor noch einmal aufgestockt.

Das war um die Zeit, als Dr. Friedemann K., dem Leiter der Chirurgie, klar werden musste, dass er seinen Traum vom Chefarztposten würde begraben müssen. Der Krankenhausträger, ein Wohlfahrtsverband, hatte die Stelle des scheidenden Chefarztes öffentlich ausgeschrieben. Im Klartext: Der interne Bewerber Dr. K. wird die Stelle wohl kaum bekommen. Für einen, der jahrelang dem Krankenhaus treu gedient hatte, könnte dies der Moment der inneren Kündigung gewesen sein. Ein dunkler Moment, an dessen Ende ein folgenschwerer Entschluss gestanden haben könnte.

Es gibt eine Untersuchung der Universität Hamburg. Sie geht der Frage nach, was Arzt-Versicherer stutzig machen sollte. Dass Ärzte, vor allem gegen Ende ihrer Karriere, sich selbst verstümmeln, kommt immer wieder vor. „Mehrfachversicherung“ steht da an erster Stelle. Auch wenn „Zeugen fehlen“, wenn „alles gereinigt“ wurde, „Amputat und Werkzeug verschwunden“ sind, „glatte Wundränder“ vorliegen, könnte ein Versicherungsbetrug vorliegen. Könnte – Richter Wolf betont den Konjunktiv. Dies hier sei ein Strafverfahren, es gelte: Im Zweifel für den Angeklagten. Vier von fünf Punkten treffen auf den Fall K. zu, wohl deshalb sollen weitere Gutachter gehört werden, das Verfahren zieht sich noch mindestens bis Ende Mai.

Fürsprache erfährt der Angeklagte dennoch, vom Zeugen Traugott K., 55. Der Besitzer des benachbarten Seegrundstücks sagt aus, er habe die Säge, das Corpus Delicti, ebenfalls benutzt – nach der Tat und ohne Wissen des Angeklagten. Sagt, er habe da noch nichts gewusst von dem „schrecklichen Unfall“. Das ist schwer zu glauben, denn Traugott K. ist der Zwilling des Angeklagten. Die beiden äußerlich sehr unähnlichen Brüder sind einander eng verbunden, wohnen nicht weit entfernt: Friedemann, der Arzt, Traugott, der Pfarrer. Erst „eine Woche später“ habe er von des Bruders Verletzung erfahren. Da hätte er sich schon gefragt, „warum muss ich das von anderen erfahren?“

Jetzt sitzt der hagere Mann mit dem großen Schnauzbart am Zeugentisch, er will seinem Bruder helfen. Erzählt, wie sie, die Pfarrerssöhne, erzogen wurden: „pietistisch, wenn sie verstehen“. Eine Ehrenerklärung wird verlesen, die er vor Jahren vor dem Landgericht Karlsruhe für seinen Bruder abgegeben hat. Der sei „charakterlich und von seiner Prägung aus dem Elternhaus nicht geeignet, sich zu verstümmeln“. Traugott K. glaubt seinem Bruder. Er liebt ihn.

Beider Augen sind von sehr tiefem Blau. Während der Zeuge eindringlich das Gericht anschaut, ihm Worte wie Ehrlichkeit, Familienmensch, Bescheidenheit zuwirft, fixiert der Angeklagte wie fast stets während der Verhandlung eine Stelle hinter dem Fenster, den Himmel über der märkischen Kleinstadt. Zwischen den Brüdern, auf einem Tischchen vor der Richterbank, ruht gelb und gar nicht mal besonders groß die Säge.