PECHMARIE UND UNGLÜCKSRABE

VON RALF SOTSCHECK

Merkwürdig, dass es in der englischen Sprache kein Wort für „Schadenfreude“ gibt. Dabei ist der Engländer an sich ein schadenfrohes Volk. Aber um das zu verschleiern, benutzt er das deutsche Wort. Neulich bei einem Musikfestival in Nordengland fiel einem Mädchen die Handtasche mit Geld, Handy und Fahrschein für die Heimfahrt ins Plumpsklo. Sie versuchte, die Tasche mit dem Arm herauszuangeln. Als das nicht gelang, steckte sie auch den anderen Arm ins Klo – und blieb stecken. Sieben Feuerwehrmänner brauchten 20 Minuten, um sie und ihre Handtasche aus der misslichen Lage zu befreien. Beide wurden mit dem Feuerwehrschlauch abgeduscht.

Die Nachricht vom „Poo Girl“, wie die Pechmarie getauft wurde, sprach sich in Windeseile auf dem Festival herum. Am Abend gab es bereits erste Gedichte und Lieder über das „Scheißmädchen“, am nächsten Tag tauchten T-Shirts und Baseballkappen mit dem „Poo Girl“-Logo auf. Mehr als 2.000 Menschen traten der „Gesellschaft zur Wertschätzung des Scheißmädchens“ bei. Aber niemand wusste, wer sie war. Der Vereinsgründer forderte: „Los, gib dich zu erkennen!“

Das tat sie dann auch, und zwar ausgerechnet in dem Poo-Blatt Sun, der Hauspostille der Schadenfrohen. Die 18-jährige Charlotte Taylor aus Sunderland, die in einem Billigbrillenladen arbeitet, verriet dem Reporter, dass ihr die Angelegenheit peinlich war. Ach. Hoffentlich hat das Scheißblatt dem Scheißmädchen wenigstens ein anständiges Honorar gezahlt. Das wäre Glück im Unglück.

Das hat Mick Wilary aus der nordenglischen Grafschaft Durham nicht. Der 58-jährige Farmarbeiter wollte gerade Viehfutter in einen Baggerlader schaufeln, als das Gerät ins Rollen kam und ihn gegen eine Wand drückte. Beide Beine waren mehrmals gebrochen, aber die Ärzte konnten sie durch drei Operationen retten. Es war sein 30. Unfall – nicht mitgerechnet die vielen Male, die er von niederträchtigen Kühen getreten wurde.

Einmal fiel er aus einer Baggerschaufel und brach sich beide Fußknöchel. Sie waren gerade erst verheilt, nachdem er auf eine Kartoffel getreten und ausgerutscht war. Ein anderes Mal stolperte er über eine Katze, fiel die Treppe hinunter und holte sich eine Schädelfraktur. Mehrere Rippen mussten dran glauben, als die Ladung im Anhänger ins Rutschen kam und seinen Traktor auf die Seite riss. Das Schlüsselbein brach er sich, als sein Pferd sich vor einer Plastiktüte erschreckte und ihn abwarf. Beim Versuch, ein Seil durchzuschneiden, schnitt er stattdessen einen Teil seines Fingers ab. Der Plan, einen Stock anzuspitzen, ging ebenfalls schief: Er stach sich das Messer in den Bauch. Und mit einem Hammer kann er auch nicht umgehen. Insgesamt zehn Finger brach er damit.

Seine Geschichte erschien in der Sunday Sun, die zwar nichts mit der Sun zu tun hat, aber ein ebensolcher Schmutzkübel ist. Der Bericht strotzt nur so vor Schadenfreude. Einen Fanclub wie das „Poo Girl“ hat Mick Wilary ungerechterweise nicht. Die Baseballkappen und T-Shirts mit Pechvogel-Logo muss er selbst drucken lassen.