So unproduktiv wie nie zuvor

ARBEITSMARKT Massenentlassungen gab es nicht, dafür sank die Produktivität. Und Stellen in der Industrie weichen niedrig entlohnten Dienstleistungsjobs

BERLIN taz | Manch einer rieb sich die vergangenen Monate verwundert die Augen. Denn ungeachtet der Wirtschaftskrise blieb der befürchtete große Anstieg der Arbeitslosenzahlen aus. Auch die jüngsten Daten bestätigen dies: Im April sank die Arbeitslosenquote um 0,4 Prozentpunkte auf 8,1 Prozent ab, saisonbereinigt ging die Zahl der Arbeitslosen um 68.000 auf 3,285 Millionen zurück. Und die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen in ihrer Frühjahrsprognose für das laufende wie für das kommende Jahr einen Rückgang der Arbeitslosigkeit voraus.

Als „historisch und international gesehen außergewöhnlich“ bezeichnet der Volkswirt Christoph-Martin Mai vom Statistischen Bundesamt diese Entwicklung. Selbst wenn man berücksichtigt, dass vor einem Jahr die Zählweise in der Arbeitslosenstatistik verändert wurde, so dass rund 200.000 Arbeitslose weniger zu Buche schlugen, wird klar: Es gibt ein neues Phänomen. Denn in sämtlichen der fünf Abschwungphasen, die die Bundesrepublik seit dem Jahr 1970 durchlaufen hat, nahm die Erwerbstätigkeit stärker ab als das Bruttoinlandsprodukt. Jetzt ist das Gegenteil der Fall: Während das Bruttoinlandsprodukt 2009 um 5 Prozent einbrach, sank die Zahl der Erwerbstätigen im Jahresdurchschnitt nur minimal, nämlich um 0,04 Prozent.

Diese Diskrepanz erklärt Mai mit „einer Reduzierung der Produktivität je Erwerbstätigen um 4,94 Prozent“. Es ist ein Rekordwert: Den bis dato stärksten Rückgang der Arbeitsproduktivität verzeichnete die Bundesrepublik mit einem Minus von 0,3 Prozent im Jahr 1980. Die Statistiker berechnen den Wert aus dem Rückgang der Produktivität pro Arbeitsstunde und einer Veränderung der Jahresarbeitszeit. In den Arbeitsalltag übersetzt heißt das: Statt großflächigem Stellenabbau wurden die Kurzarbeit genutzt sowie Überstunden auf Arbeitszeitkonten abgebaut. Rund 1,2 Millionen Beschäftigungsverhältnisse konnten Berechnungen des Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung zufolge im vergangenen Jahr auf diese Weise gesichert werden.

Doch hinter dem deutschen Jobwunder steckt auch ein beschleunigter Strukturwandel des Arbeitsmarktes. Industriearbeitsplätze verschwinden, Jobs in der Dienstleistungsbranche entstehen. In den exportorientierten Bereichen des produzierenden Gewerbes wurden 2009 im Vergleich zum Vorjahr 216.000 Stellen abgebaut. „Eine Größenordnung, die die Beschäftigungsgewinne der beiden vorhergegangenen Jahre per saldo wieder aufzehrte“, schreibt Mai. Es sind Arbeitsplätze, die vor allem von Männern in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung ausgefüllt werden.

Zumindest quantitativ annähernd kompensiert wurden diese Arbeitsplatzverluste 2009 durch 189.000 Neuanstellungen in der Dienstleistungsbranche. Die meisten dieser Arbeitsplätze entstanden im Gesundheits- und Erziehungssektor. Es sind vor allem Frauen, die dort ihr Geld verdienen. Der Arbeitsmarkt wird im Zuge der Krise jedoch nicht nur weiblicher.

Mit dem Ausbau von Dienstleistungsarbeitsplätzen findet auch eine Verlagerung hin zu mehr Teilzeitbeschäftigung oder geringfügig entlohnten Jobs statt. So ist laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung „die Zahl der in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer 2009 um gut 270.000 gestiegen, während fast 270.000 Vollzeitjobs verloren gingen“. EVA VÖLPEL