Von „Hundegebell“ bis „zivilisierte Sprache“

DEBATTE Auf einer Veranstaltung im Rathaus Schöneberg trafen sich Akteure im Bildungswesen, um über ein Tabuthema zu sprechen: Diskriminierung an Berlins Schulen. Ein Fazit: Noch gibt es zu wenige Instrumente für die Betroffenen, die sich dagegen wehren wollen

Eine Mutter, die über Diskriminierung ihrer Kinder klagt, gilt bei Lehrern als hysterisch

VON ALKE WIERTH

200 TeilnehmerInnen hatten sich angemeldet, 400 kamen: Diese Zahlen dürften die Relevanz des Themas verdeutlichen, das am Freitag im Rathaus Schöneberg verhandelt wurde. Dabei hatten die Bemühungen der mitveranstaltenden Open Society Justice Initiative (OSJI), eine Debatte über Diskriminierung an Berlins Schulen anzustoßen, nur mühsam an Fahrt gewonnen. Lange habe man auf Nachfragen vor allem die Antwort bekommen: „Bei uns kein Problem“, erzählt am Rande der Tagung Maxim Ferschtman, Mitarbeiter der OSJI, einer Initiative der New Yorker Menschenrechtsorganisation Open Society Foundation. Begründung: Es gebe keine entsprechenden Gerichtsverfahren.

Was dann aber im Laufe der ganztägigen Veranstaltung an Diskriminierungspraktiken und strukturellen Ausgrenzungsmechanismen in Institutionen zusammengetragen wurde, war beeindruckend.

„Diskriminierung an Berliner Schulen benennen: Von Rassismus zu Inklusion“ – unter diesem Titel gab es Podiumsdiskussionen und Workshops, die auch Beschwerde- und Klagemöglichkeiten gegen Benachteiligung behandelten. Auf den Podien und im Publikum vor allem LehrerInnen, Studierende, WissenschaftlerInnen, Eltern, VertreterInnen von Behörden und Antidiskriminierungsinitiativen.

Die Grundlage fehlt

Warum es bislang tatsächlich kaum Gerichtsverfahren wegen schulischer Diskriminierung gibt, erläuterten auf der Tagung unter anderem der Berliner Rechtsanwalt Carsten Ilius, die Leiterin der Landesstelle für Gleichbehandlung, Eren Ünsal, und die Antidiskriminierungsberaterin Nuran Yigit: SchülerInnen und Eltern fehlt schlicht die gesetzliche Grundlage, gegen Diskriminierung an Schulen juristisch vorzugehen.

Das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), auf dessen Grundlage die Berliner Landesstelle für Gleichbehandlung arbeitet, ermöglicht zwar Klagen gegen Diskriminierungen durch Arbeitgeber oder andere Vertragspartner, nicht aber von Privatpersonen oder Verbänden gegen Behörden und Verwaltungseinrichtungen in ihrer Dienstleisterfunktion: eine „Schutzlücke“, die unbedingt geschlossen werden müsse, befand Nuran Yigit. Der bislang einzig mögliche Rechtsweg – verwaltungsgerichtliche Klagen gegen konkrete Einzelentscheidungen von Schulen – werde von Eltern äußerst ungern beschritten, so Anwalt Ilius: „Sie haben Angst vor den Folgen für ihre Kinder.“ Denn die blieben in der Regel an den Schulen.

Erst kürzlich scheiterte Ilius mit dem bundesweit ersten Versuch einer solchen Klage vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Eltern hatten die Nichtversetzung und den damit verbundenen Verweis ihrer Kinder vom Gymnasium als Folge von Diskriminierung angesehen. Die vier SchülerInnen, alle selbst aus Einwandererfamilien, waren in eine Klasse mit einem Migrantenanteil gekommen, der weit über dem von Parallelklassen lag: eine diskriminierende und zu Nachteilen führende Aufteilung der SchülerInnen, fanden die Kläger und ihr Anwalt. Das Gericht mochte dieser Auffassung nicht folgen und wies die Klage ab.

„Irrste Klage des Jahres“

Der Prozess hatte in Berlin für teils zynische Reaktionen und Berichterstattung gesorgt: Migrantenkinder klagen gegen zu viele Migrantenkinder – „die irrste Klage des Jahres!“, kommentierte der Bürgermeister des betroffenen Bezirks Neukölln, Heinz Buschkowsky (SPD), in der Bild-Zeitung.

Ethnische Segregation, also die ungleichmäßige Aufteilung von SchülerInnen mit und ohne Migrationshintergrund auf Schulen – bzw. innerhalb von Schulen auf verschiedene Klassen –, war ein großes Thema der Veranstaltung. Erwähnung fand dabei, dass die teils verzweifelten Anstrengungen mancher Schulen mit hohem Migrantenanteil, mehr „deutsche“ Kinder zu gewinnen, wieder zu Diskriminierung führt: Es signalisiere denen, die da sind, dass sie nicht erwünschte, eben „schlechte“ SchülerInnen seien, so eine Teilnehmerin.

Ein strukturelles Problem, das sich aus der permanent wiederholten Beschreibung von migrantischen SchülerInnen als Bildungsversager ergibt – und so weit führt, dass gleiche Arbeiten schlechter bewertet werden, wenn sie unter einem türkischen statt deutschem Namen abgegeben werden, wie Forscher feststellten.

Ein zweites großes Thema: diskriminierende Äußerungen oder Verhaltensweisen von Lehrkräften gegenüber SchülerInnen – und die Schwierigkeiten, dagegen vorzugehen. „Hört auf mit dem Hundegebell!“: eine Lehrerin zu Schülern, die miteinander Kurdisch sprechen. Auf den Tafeln einer das Symposium begleitenden Ausstellung, die Diskriminierungsfälle dokumentiert, erzählt ein Vater japanischer Herkunft, wie in der Schulklasse seiner Tochter das Lied von den „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ gesungen wird – und die Lehrerin dabei die Kinder auffordert, die Augenwinkel mit den Fingern nach oben zu ziehen, damit „das typische Schlitzaugengesicht“ entstehe.

Nachdem der Vater sich beim Schulleiter beschwert hat, wird die Tochter – ein Grundschulkind – vor der Klasse gefragt, ob sie das denn beleidigt hätte. Sanchita Basu von ReachOut, der Beratungsstelle für Rassismusopfer, erzählt, wie diese oft zu Problemverursachern gemacht werden: Eine Mutter, die über Diskriminierung ihrer Kinder klagt, gilt bei den Lehrern als „hysterisch“, einem Kind, das wegen wiederholter rassistischer Übergriffe häufig weint, wird der Besuch beim Schulpsychologen nahegelegt. Die Begründung des Schulleiters dafür, so Basu: Statt zu weinen, könne man sich doch in „zivilisierter Sprache“ unterhalten.

Wie weit die Erfahrungswelt von rassistischer Diskriminierung Betroffener und die Praxis der zuständigen Verwaltungen im Umgang damit auseinanderklaffen, stellten deren Vertreter auf dem Symposium unter Beweis. Thomas Duveneck, Jurist in der Senatsverwaltung für Bildung, pries etwa die Qualitätsbeauftragte seiner Behörde als Anlaufstelle für Betroffene. Dass nicht sie, sondern er selbst ihre Arbeit auf der Tagung vorstellte, hat allerdings einen nicht unerheblichen Grund: Die – laut Bildungsverwaltung – „Ansprechpartnerin für Vorschläge zur Qualitätsentwicklung in Kita und Schule“ darf gar nicht offiziell für die Senatsverwaltung sprechen. Ihr Amt ist nur ein Ehrenamt – eine in der Verwaltung verankerte und mit entsprechenden Befugnissen ausgestattete Beschwerdestelle gibt es nicht.

„Viel Spaß dabei“

Und Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) reihte sich beim Abschlusspodium der Tagung in den Chor der Zyniker ein, als er denen, die Rassismus an Schulen abschaffen möchten, „viel Spaß dabei“ wünschte: Das sei unmöglich, Schule sei nun mal ebenso rassistisch wie die Gesellschaft selbst. Sein Lösungsvorschlag: einfach den Rassismusbegriff enger fassen. „Nicht jeder kulturelle Konflikt ist gleich Rassismus“, so Rackles.

Dabei ist Gleichbehandlung und Chancengerechtigkeit von Kindern das drängendste Thema der deutschen Bildungspolitik. Das hatte zu Beginn der Veranstaltung OSJI-Direktor James Goldston klargemacht: Es war die Pisa-Studie mit ihrem Ergebnis der Bildungsbenachteiligung von Einwandererkindern, die die Initiative bewogen hat, ihr Augenmerk auch auf Deutschland zu richten. Denn nicht nur Bildung sei ein Menschenrecht, so Goldston, sondern ebenso das Recht, nicht diskriminiert zu werden: „Deutschland verletzt durch diese Benachteiligungen deutsches und internationales Recht.“ Mit ganz realen Folgen für die Betroffenen: Sie haben schlechtere Zukunftschancen.

Unabhängige Beschwerdestellen, am besten auf Bezirksebene, die dennoch mit den nötigen Befugnissen wie Akteneinsicht und Sanktionsmacht ausgestattet sind –, das war eine Forderung, die am Ende der Tagung stand. Eine weitere: die Verankerung des Themas in der Ausbildung von Lehrer- und ErzieherInnen, um Bewusstsein für Diskriminierung und Rassismus zu schaffen. Und, ganz wichtig: eine juristische Grundlage für Antidiskriminierungsklagen.

In Berlin liegt ein entsprechender Gesetzentwurf übrigens seit 2011 vor: erarbeitet noch unter der damals rot-roten Landesregierung. Seit Rot-Schwarz die Stadt regiert, liegt der Entwurf freilich in der Schublade – obwohl auch SPD und CDU in ihrem Koalitionsvertrag die Verbesserung des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes gegenüber der Verwaltung als „öffentliche Dienstleisterin“ verankert haben.