„Wie krass ist das denn eigentlich“

Heulende Lehrerinnen, aggressive Schüler – die sechsteilige ZDF-Doku „SOS Schule – Hilferuf aus dem Klassenzimmer“ ist seit ihrer ersten Ausstrahlung am 2. Mai heftig in die Kritik geraten. Wir haben uns die umstrittene Doku mit Berliner Hauptschülern angeschaut – und die erkennen sich kaum wieder

von SASCHA TEGTMEIER

Felix macht mit dem Mund leise die Beatbox, bum-tschak, zur Titelmusik.

Großaufnahme von einem Mädchen, dem dicke Tränen über die Wangen rollen. Ein Junge pöbelt in einem Klassenzimmer. Eine Schultafel wird eingeblendet: „Wut – Verzweiflung – Wahnsinn“ steht darauf, „Aufbruch – Zukunft – Hoffnung“ auf einer anderen. Schnelle Schnitte.

Als eine sonore Kommentatorenstimme einsetzt, hört die Musik auf, und auch Florian blendet sein Bum-tschak aus. Felix ist Schüler an der Werner-Stephan-Schule in Berlin-Tempelhof und schaut an diesem Dienstagabend den dritten Teil der Dokumentation „SOS Schule – Hilferuf aus dem Klassenzimmer“ über eine Berliner Hauptschule, der gestern im ZDF lief. Für die sechsteilige Serie haben zwei Reporter von Spiegel-TV ein halbes Jahr lang in einer Berliner Hauptschule gefilmt. Dazu haben sie der Schule so genannte Schulcoachs spendiert (siehe Kasten).

Die Serie ist seit Ausstrahlung des ersten Teils am 2. Mai in heftige Kritik geraten. Denn es wurden weinende, verzweifelte und hilflose Lehrer in Großaufnahmen gezeigt. Im zweiten Teil hat sich ein schwuler Schüler mehr oder weniger freiwillig vor laufender Kamera geoutet. Der Berliner Senat – der die Dreharbeiten genehmigt hatte – befürchtet, dass die Grenzen zu einem „voyeuristischen Reality-TV“ überschritten wurden. Auch der Leiter der porträtierten Schule sieht seine Klassen nun zu negativ dargestellt.

Wie sehr entspricht die Doku der Berliner Hauptschulrealität? Felix geht in die zehnte Klasse der Werner-Stephan-Oberschule. Auch Berlin. Auch eine Hauptschule. Er sitzt mit zwei Mitschülerinnen im Aufenthaltsraum seiner Schule. Die Szenen von viel Gewalt und wenig Unterricht, die er 45 Minuten lang sieht, wurden nicht weit entfernt von seiner Schule gedreht – in Charlottenburg.

„Die Pommern-Schule“, knarrt die Stimme aus dem Off dramatisch – so wie der Sprecher wahrscheinlich schon viele Orte des deutschen Alltags mit der Mischung aus Kraft und Timbre zum Kriegsschauplatz stilisiert hat. Dieses Mal ist es jene Hauptschule „mit 300 Schülern und vielen Problemen“, die den Fernsehzuschauer schocken soll.

Auch Felix schaut mit großen Augen auf den Fernsehschirm, als ihm einzelne Problemschüler aus Charlottenburg steckbriefartig vorgestellt werden: Jasim, 17, ist ein hartnäckiger Schulschwänzer, Nermin, 14, hat schwere familiäre Probleme – und so weiter.

„Die machen nichts aus ihrem Leben“, sagt Felix. Seine Lebensdaten würden nicht in das Konzept der Doku-Soap-Macher passen. Er ist Schulsprecher und Streitschlichter – ein Posten, mit dem die Schüler bei der Lösung von Problemen eingebunden werden. Felix ist nicht perspektivlos. Er will nicht nur seinen erweiterten Hauptschulabschluss machen, sondern mindestens auch die Mittlere Reife.

„Die sind so krass respektlos“, sagt Felix, als im Fernseher ein Pommern-Schüler sich ruppig gegen die Aufforderung der Lehrerin wehrt, sein Baseball-Mützchen abzunehmen. „Hier ist es ganz bestimmt nicht so“, sagt Felix und fährt sich mit der Hand durch seine dunklen Stoppelhaare. „Denen“, sagt er mit Blick auf die Pommern-Schüler im Fernsehen, fehle die Disziplin.

Klassenlehrer Sperl und Schulcoach Stoya brauchen eine Viertelstunde, bis sie die neunte Klasse dazu gebracht haben, ihre Plätze entsprechend der Sitzordnung einzunehmen. Schüler schubsen sich gegenseitig. „Warum sprechen Sie immer mich an? Die anderen sitzen auch falsch“, sagt eine Schülerin im rotzigen Ton.

Auch Felix’ Mitschülerinnen Angelina aus der siebten und Bedir aus der achten Klasse erkennen in den Fernsehbildern nicht ihren eigenen Alltag wieder. „Wir sind nicht so blöd wie die“, sagt die zwölfjährige Angelina und zuckelt verlegen ihre rote Sporthose zurecht. Felix entgegnet ihr aber: „Wir sind doch auch Hauptschule, wir sind auch nicht normal.“ Bedir grinst und meint: „Ich will gar nicht normal sein, ich will was Besonderes sein.“ Der Unterschied zwischen ihrer und der Schule in der Doku – da sind die drei sich einig – sei, dass an der Werner-Stephan-Schule das Verhältnis zu den Lehrern gut sei. „Manche sind Freunde für mich geworden“, sagt Bedir.

Die Fernsehbilder lösen bei den drei Jugendlichen Faszination und Entsetzen gleichermaßen aus. Mit „Boah, ey“, kommentieren sie mehrmals das Chaos in den Klassenzimmern der Pommern-Schule. Nähe und Distanz scheinen sie gleichermaßen zu ihren Altersgenossen zu verspüren. In Kleidungsstil und Jugendslang sind sie sich sehr ähnlich – aber ihr Schulalltag könnte kaum unterschiedlicher sein. „Ich würde niemals auf die Pommern-Schule gehen“, sagt Bedir. An ihrer Schule wäre das Verhältnis zu den Lehrern ganz anders. „Einige sind für mich richtige Freunde geworden“, sagt auch sie. Deswegen schütteln die drei Schüler der Werner-Stephan-Schule während des Films die Köpfe über ihre Altersgenossen. Reiner Haag, Vertrauenslehrer der Werner-Stephan-Schule, hatte seinen Schülern schon von den ersten beiden Teilen der ZDF-Doku erzählt. Dabei hat er sich aufgeregt und tut es nun wieder – als er zur TV-Stunde seiner Schüler hinzukommt: „Die Serie spricht die niedersten Instinkte der Zuschauer an“, sagt er. Ein „ekelhafter Voyeurismus“ sei das. „Die Hauptschüler werden als destruktive Chaoten durch die Sendung stigmatisiert.“

Ein Vater kommt in den Aufenthaltsraum, um seinen Sohn abzuholen. Die ersten beiden Folgen der ZDF-Doku hat auch er gesehen. „Das ist Sensationshascherei, die nicht von meinen Gebühren bezahlt werden soll“, sagt er. Es sei Stimmungsmache gegen die Hauptschulen.

Auch Florian macht sich Sorgen, dass der Ruf der Hauptschulen leiden könnte. „Jetzt denken die Leute in Tübingen oder sonst wo, wir sind alle wie die Rütli“, sagt er. In dem Film stecke wohl zu viel „Action“ und „Medienspielerei“ drin, meint Florian.

Die Schulcoaches besuchen die Mutter des Dauerschwänzers Jasim. Jasim soll vor Gericht, weil er einem Mitschüler einen MP3-Player geklaut hat. Jasim kommt nach Hause und brüllt: „Sie sind ein asozialer Sozialpädagoge. Nehmen Sie das mal mit der Kamera auf, wie ein 16-Jähriger einen älteren Mann fertig machen kann.“ Und dann: „Sie Vogel, Sie Spast!“

Angelina kann es nicht fassen: „Ach du Scheiße!“, sagt sie nur. Bedir glaubt, dass die Kamera Jasims Ausbruch provoziert hat: „Jetzt hat er voll angegeben vor der Kamera.“ Auch Felix glaubt, dass viele der Szenen des SOS-Films schlimmer als die Realität sind. „Da steckt viel mehr Action drin. Das sind Medienspielchen wie auch an der Rütli“, sagt er.

Vertrauenslehrer Haag ist sich nicht sicher, ob die Schüler vor der Kamera übertreiben. Es könnte schließlich auch anders herum sein.

Felix, Bedir und Angelina finden viel schlimmer, was der Film mit den Schülern und Schülerinnen macht. In dem Teil, den sie gesehen haben, wird eine Außenseiterin gezeigt, wie sie vor dem Spiegel steht und sagt: „Ich bin zu dick.“ Dann weint sie. „Die kann doch nicht mehr in die Schule gehen“, sagt Bedir. Die nächsten Folgen möchten die drei aber trotzdem sehen. Denn irgendwie finden sie es schon interessant.