Tod im Scheißhaus

Arbeitsverweigerer, Gauner und fäkalfixierter Provokateur: Eine Tagung in Braunschweig räumt auf mit dem Bild Till Eulenspiegels als kinderfreundlichem Stadtpatron. Apropos: Wessen Stadtpatron eigentlich? Mehrere Kandidaten sind im Rennen

Dem Raubritter, in dessen Diensten Till die Gegend unsicher machte, verlängerte er damit den Senf. Und der Apotheker, der den alten, an der Pest dahinsiechenden Schalk mit einem Abführmittel gequält hatte, fand sie am nächsten Tag in seiner Arzneibüchse: Eulenspiegel-Scheiße, deftiges Leitmotiv seiner weniger bekannten Scherze. Auch dem Bauern, der dem Eulenspiegel nichts ahnend eine Mitfahrgelegenheit auf seinem Karren anbot, hinterließ er sie dampfend und stinkend auf seinen Pflaumen.

Ein harmloser Spaßmacher aus dem Kinderbuch? Ein pädagogischer Witzbold, der bloß selbstherrlichen Spießern den Spiegel vorhält? Nichts da. Till Eulenspiegel, Lokalheld diverser norddeutscher Städte, die einen Tourismusmagneten dringend gebrauchen können, war ein notorischer Arbeitsverweigerer, gerissener Gauner und Tabu-Brecher ersten Ranges. Letzteres behauptet zumindest eine Tagung in Braunschweig, die seit Mittwoch die Tabus durch die Zeiten verfolgt: Exkremente im Mittelalter! Inzest in den frühen Massenmedien! Filme, die auf Festivals nur in Hotelzimmern laufen dürfen! In Braunschweig wird darüber geredet – Till sei Dank.

Eine Revolution des Eulenspiegel-Bildes? Hans-Joachim Behr, Germanistik-Professor und Mit-Organisator der Tagung, winkt ab. Wer die Kinderbücher liegen lässt und im 1510/11 anonym in Straßburg erschienenen Bestseller „Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel“ blättert, merkt schnell, wes Geistes Kind der Schelm ist. Den Braunschweigern ging es weniger um eine historische Korrektur als um ein prominentes Zugpferd für die Kulturhauptstadt-Bewerbung, in deren Rahmen die Tagung geplant wurde. Fäkal-Charme und Wissenschafts-Offensive zum Trotz: Braunschweig scheiterte. Doch die Till-Hommage ließ sich die Stadt der Wissenschaft 2007 nicht nehmen.

Kneitlingen bei Schöppenstedt im benachbarten Landkreis Wolfenbüttel soll Tills Geburtsort sein. Mit dem schleswig-holsteinischen, an touristischen Attraktionen nicht reicheren Mölln lieferte sich Schöppenstedt eine lange Fehde, welches nun die authentischere Eulenspiegel-Stadt sei, weiß Behr. Heute noch heißt es süffisant auf der Webseite Möllns: „So um 1300 mag er in Kneitlingen geboren sein. Rund 50 Jahre später kam er nach Mölln, wo er … im Heiliggeist-Hospital sein Leben beschloss.“ Die Möllner pochten auf das angeblich belegte Sterbedatum. Doch als einzige Quelle konnten sie nur den Braunschweiger Zollschreiber Hermann Bote nennen, den mutmaßlichen Autor des „Dyl Ulenspiegel“. Sicher aber ist gar nichts.

Das Eulenspiegel-Museum in Schöppenstedt, Mit-Veranstalter der Tagung zu den verbotenen Themen, bietet eine breite Palette an knuddeligen Till- Handpuppen und Till-Hampelmännern an. Hans-Joachim Behr sieht so eine Verballhornung sportlich. „Mit den Veränderungen, die eine literarische Figur durchmacht, muss man leben können.“ Till, der Wörtlich-Nehmer, der Eulen und Meerkatzen buk, weil der Bäcker ihm das scherzeshalber aufgetragen hatte, wurde irgendwann für Erziehungszwecke eingespannt. Seine Botschaft an die Kleinen: „Dämlichkeit hat Konsequenzen.“ Die Eulen und Meerkatzen, die der erboste Bäcker ihm um die Ohren warf, verkaufte Till übrigens gewinnbringend an die entzückten Braunschweiger. Heute kann man sie dort immer noch erstehen: 4,50 Euro das Paar.

Und worin besteht nun Eulenspiegels Tabubruch? Sicher nicht darin, einem unschuldigen Bauern die Ernte zu versauen, meint Germanistik-Professor Behr. Die texanische Literaturwissenschaftlerin Susan Signe Morrison hat herausgefunden, dass der Umgang mit Exkrementen ein heißes Eisen zwischen Stadt und Land war. Konnte der Bauer seine Hinterlassenschaften sinnvoll zum Düngen verwerten, wurden sie in einer dicht besiedelten Stadt wie London oder Paris zum Problem. Es hagelte Beschwerden und Verordnungen gegen Bürger, die ihren Scheiß auf die Straße kippten. „Goldfinder“ nannte man die Männer, die sich zum Leeren der Jauchegruben hergaben, denn sie kassierten fürstlich dafür.

Tills Tabubruch entdeckt Morrison darin, dass er in einer Art Kurzschluss zusammenführte, was zusammengehört: Essen und Ausscheiden. Er schiss regelmäßig auf Nahrungsmittel und Esstische. „Hier kam die Arznei heraus, hier muss sie wieder hinein“, sprach er und entleerte sich in die Büchse des Apothekers. Mit der Mahnung an den Zusammenhang von Hinein und Hinaus, der Vermischung von sozialem Ritual „Essen“ und höchst privatem „Stuhlgang“ tat sich eine Gesellschaft ungeheuer schwer, die nach zivilisatorischem Fortschritt strebte. Ein Gelehrter, den Morrison zitiert, wetterte gegen die pöbelhaften Landfrauen, die das Essen mit aufs Klo nahmen und sich gleich oben wieder hineinstopften, was unten hinauskam. Er konnte schließlich nicht ahnen, dass er in der „analen Phase des modernen Ichs“ lebte, wie Morrison das Mittelalter kühn bezeichnet.

Annedore Beelte