Der Export braucht keine Stütze

Steuersenkungen, um deutsche Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu stärken, sind so ziemlich das Absurdeste, was Politikern und Ökonomen einfallen kann

Außenhandel istimmer ein Geben und Nehmen. Doch dieses Konzept verstehen nicht alle

Stellen Sie sich vor, bei den letzten drei Durchgängen der Tour de France, die Lance Armstrong schließlich alle überlegen gewonnen hat, hätte seine Mannschaft US Postal jedes Mal mitten im Rennen verkündet, der Topfavorit müsse nun ein noch einige Erleichterungen wie z. B. ein neues und besseres Rad bekommen, weil er sonst nicht mehr wettbewerbsfähig wäre. Jeder vernünftige Mensch hätte die Mannschaftsleitung für verrückt erklärt. Die meisten Beobachter hätten genau das Umgekehrte für richtig gehalten: Weil Lance Armstrong ohnehin so überlegen war, hätte man in Erwägung ziehen können, ihm, wie man das bei Pferderennen macht, ein zusätzliches Bleigewicht anzuhängen. Dann hätten auch andere eine Chance gehabt, und die ganze Sache wäre viel spannender und damit auch für das Publikum interessanter geworden.

In Deutschland erklärt allerdings niemand Ökonomen und Politiker für verrückt, die lauthals verkünden, man müsse nun die Steuern für Unternehmen und insbesondere exportorientierte Unternehmen senken, um mit den Ländern wie Irland oder der Slowakei mitzuhalten, die wesentlich niedrigere Sätze verlangen. Die Logik ist allerdings genau die gleiche wie bei dem Beispiel mit Lance Armstrong auf der Tour de France.

Deutschland ist heute eine der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Erde. Nur Japan und China können global mit dem vereinten Deutschland trotz der noch immer schwachen Ostgebiete mithalten. Das ist nicht nur in der weltweiten Diskussion unbestritten, es ist auch im Inland weitgehend Konsens. Sachverständigenrat und Wirtschaftsforschungsinstitute haben es vielfach bestätigt.

Der Hauptgrund für diese überragende Wettbewerbsfähigkeit ist die Tatsache, dass Deutschland, das ohnehin im internationalen Vergleich immer weit vorne lag, in den letzten zehn Jahren eine beispiellose Verbesserung seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit dadurch erzielt hat, dass es im Innern den Gürtel weit enger geschnallt hat als die anderen. Das Vehikel dazu war eine Lohnpolitik, die unter kräftiger Mithilfe der Politik dafür sorgte, dass der Anstieg der Lohnstückkosten – diese messen den Anstieg der Arbeitskosten in Relation zum Anstieg der Produktivität – weit hinter dem der wichtigsten Handelspartner zurückblieb.

In den alten D-Mark-Zeiten hätte der Wechselkurs für einen Ausgleich dieser Kostendifferenzen sorgen können. Die Händler am Devisenmarkt hätten früher oder später die deutsche Stärke erkannt und dafür gesorgt, dass die deutschen Währung aufwertet. Sie wäre so lange teurer geworden, bis der deutsche Kostenvorteil ausgeglichen gewesen wäre. Jetzt aber erzielt Deutschland einen Großteil seiner Erfolge im Verhältnis zu den Partnern in der Währungsunion, wo es schlicht keinen Wechselkurs mehr gibt. Es versteckt sich sozusagen kurzfristig hinter der Mauer der Währungsunion. Früher oder später aber wird die Rechnung präsentiert.

Das Ergebnis dieser Politik sind hohe und steigende Marktanteile deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt und wachsende Leistungsbilanzüberschüsse, was wiederum heißt, sinkende Weltmarktanteile der anderen und zunehmende Verschuldung der Defizitländer gegenüber Deutschland. Deutschland lebt massiv unter seinen Verhältnissen, die anderen, viele Europäer und die USA natürlich, leben weit darüber.

Ganz unabhängig davon, wie man diese Politik einer bewusst herbeigeführten relativen Kostensenkung eines Landes – also die Politik einer Abwertung des realen Wechselkurses, wie die Ökonomen das nennen – bewertet, was sollte es rechtfertigen, in einem solchen Land auch noch alle anderen relevanten Größen wie die Steuern, die in irgendeiner Weise mit Wettbewerbsfähigkeit zu tun haben könnten, auf Weltspitze in Sachen Wettbewerbsfähigkeit zu stellen? Was soll das Ziel einer solchen Politik sein? Müssen die anderen Länder in den Konkurs gezwungen werden?

Die deutsche Politik begreift nicht, dass der internationale Handel im Verhältnis der teilnehmenden Länder untereinander immer Geben und Nehmen zugleich sein muss. Wer nur alles haben will, ohne etwas zu geben, wird am Ende alles verlieren.

Warum das so ist, lässt sich am Beispiel eines einzelnen Wirtschaftssubjekts veranschaulichen. Wer partout unter seinen Verhältnissen leben, das heißt, sparen will, muss jemanden finden, der über seine Verhältnisse leben will, sich also verschulden möchte. Der Sparwillige kann sonst das Einkommen, aus dem er sparen will, gar nicht in der geplanten Höhe erzielen. Sein Einkommen beziehungsweise seine Kaufkraft besteht ja aus dem Gegenwert der Güter, die er produziert und verkauft.

Leiht sich niemand von dem Sparwilligen die über dessen eigene Konsumpläne hinausgehende geplante Kaufkraft, bleibt der Sparwillige sozusagen auf diesem „Überschuss“ sitzen und realisiert in eben dieser Höhe kein Einkommen. Er mag zwar mehr produziert haben, als er konsumieren wollte, aber mit dem Verkauf dieses Mehrs an Gütern am Markt ist es nichts geworden, wenn niemand bereit war, sich zu verschulden. Folglich ist es dann auch mit dem Sparen nichts geworden.

Will ein einzelnes Wirtschaftssubjekt über seine Verhältnisse leben, also mehr Güter beanspruchen, als es selbst produziert, muss es einen Gläubiger finden. Das ist jemanden, der ihm im wahrsten Sinne des Wortes glaubt, dass es auf Dauer in der Lage ist, die über sein derzeitiges eigenes Einkommen hinausgehenden Konsumansprüche eines Tages wieder zurückzahlen zu können einschließlich der vereinbarten Verzinsung. Der Gläubiger leiht dem Schuldner von seiner Kaufkraft.

Früher glichen Wechselkurse die gröbsten Verzerrungen aus. Mit dem Euro geht das nicht mehr

Eines Tages muss der Schuldner aber unter seinen Verhältnissen leben, weniger verbrauchen, als er produziert, um seine Schulden zu begleichen. Im langfristigen Durchschnitt muss also jeder gemäß seinen eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten leben. Ewige Schuldner werden zahlungsunfähig, gehen als Unternehmen Pleite, verschwinden vom Markt oder müssen als Privatpersonen durch Transferzahlungen der Gläubiger unterstützt werden.

Was für ein einzelnes Wirtschaftssubjekt gilt, gilt hier ganz ähnlich für Staaten. Der Hauptunterschied besteht darin, dass eine Volkswirtschaft nicht Pleite gehen und vom Markt verschwinden kann wie ein Unternehmen, weil die in dem Land lebenden Menschen weiter existieren. Treibt ein Land mit seiner forcierten Standortpolitik bei Steuern und Löhnen andere in die Überschuldung und die Zahlungsunfähigkeit, müssen schließlich die Gläubiger selbst die Schuldner durch Schuldenerlass bzw. Transferzahlungen aus der Krise führen. Der Sieger im Wettkampf der Nationen ist am Ende immer der Verlierer.

Deutschland hätte diese Lektion aus der deutschen Einigung lernen können. Es ist schon komisch: Über Bildung redet der moderne Politiker unentwegt, aus der Erfahrung anderer lernen will er aber auf keinen Fall.

HEINER FLASSBECK