Trotz allen Übels positiv

Berlin-Film Mit dem schrulligen 70er-Kleinod „Der sexte Sinn“ erinnert die Brotfabrik an die Regisseurin Dagmar Beiersdorf

„Also dafür, dass ich dachte, mein Leben ist zu Ende, ist eigentlich noch ’ne ganze Menge passiert“

VON CAROLIN WEIDNER

Die Initiative Berlin-Film-Katalog rund um Jan Gympel hat vor noch gar nicht allzu langer Zeit einen ganz richtigen Befund angestellt: Der Berlin-Film, also Filme, die in Berlin spielen und sich mit Stadt, Bewohnern, deren Nöten und Lüsten auseinandersetzen, ist seit jeher auf einen kleinen Kanon beschränkt. Einer, der erfolgreich, gerne und oft wiederholt wird. Das ist an sich noch kein Dilemma. Tragisch wird es erst, wenn das, was auch rechts und links wuchs und noch immer wächst, leichtfertig weggeknapst wird. Wie viele Werke, Regisseurinnen und Regisseure dieses Schicksal trifft, lässt sich auf einer Liste auf der Website des Berlin-Film-Katalogs nachlesen – derzeit bündelt sich zwischen den Titeln „[1]/2 Miete“ (Marc Ottiker, 2001) und „Zyklopenuschi“ (Ades Zabel, 1984) eine außerordentliche Portion Berlin-Film.

Auch die Werke der Berliner Regisseurin Dagmar Beiersdorf tauchen hier auf. „Die Liste“ (wunderbar: dramatisch wie schlicht) hat sie mitnichten vergessen. Dagmar Beiersdorf dürfte in der kommenden Woche noch einiges mehr an Aufmerksamkeit erfahren: das Brotfabrikkino zeigt unter der Editionsnummer „18“ Beiersdorfs vierten abendfüllenden Spielfilm „Der sexte Sinn“ (1986) – eine Veranstaltung im Rahmen der „Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films“, einer seit Juni 2012 laufenden Kooperation zwischen dem Berlin-Film-Katalog und der Brotfabrik am Caligariplatz. Außerdem präsentiert Jan Gympel die erste Schrift zum filmischen Schaffen der Regisseurin, „Dirty Daughters und andere Frauen. Die Filme von Dagmar Beiersdorf“ (272 Seiten, Verlag Matthias Herrndorff).

Dass der Beiersdorf fast unverhofft solch Interesse zuteilwird, ist eine schöne Sache. Und in der Tat gibt es im kleinen, aber recht speziellen Werk der Filmemacherin so einiges zu entdecken. Nicht zuletzt auch, weil Dagmar Beiersdorf als eine der wenigen Frauen im Regiestuhl in den 70er und 80er Jahren eben doch mit Zuständen konfrontiert war, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. Ihr zweiter Film „Dirthy Daughters oder die Hure und der Hurensohn“ lief bei seiner Berlinale-Uraufführung beispielsweise in einer eigenen kleinen Reihe namens „Frauen machen Filme“. Bezeichnend auch das Filmplakat zum wiederaufgeführten Erstling „Puppe kaputt“ (1977): „Von einer Frau erlebt – von einer Frau verfilmt!“ Oder wie ein hellsichtiger Ehemann (Albert Heins) in „Die Wolfsbraut“ (1984) zu erklären weiß: „Frauenfilme sind in, Engelchen!“

Zum anderen ist der Name Dagmar Beiersdorf aufs Engste mit einem anderen verknüpft: Lothar Lambert. Eine Regie-Ikone aus dem Berliner Underground, dessen Film „1 Berlin-Harlem“ (1974) zwar im Besitz des MoMA ist, den hier aber vermutlich kaum je einer gesehen hat. Lambert tritt in „Der sexte Sinn“ als Koregisseur in Erscheinung – ein einmaliger Umstand, ließ ihn die Beiersdorf sonst als ewig plappernde Betty oder Marilyn über Bordsteine huschen. In „Der sexte Sinn“ übernimmt diese Aufgabe hingegen Ingolf Gorges, der kurzerhand in die Rolle einer drallen Blondine schlüpft, um das Treiben seines spießigen Bruders (Albert Heins) mitsamt neuer Flamme (Ulrike S.) zu bespähen. Denn jetzt, wo die strenge „Mutti“ nach einem plötzlichen Tod nicht mehr die Regentschaft in der großzügigen Berliner Villa – und somit auch über ihre dort lebenden erwachsenen Söhne – innehat, müssen beide nach neuen Regulatoren fürs eigene Lebensglück suchen. Und da fangen die Probleme an.

Es kann jedoch kein Zufall sein, dass die gar nicht mal so unterschwellige Botschaft des Films auch an diesen einen Schlüsselmonolog erinnert, in dem die Hauptprotagonistin Mascha (Imke Barnstedt) in „Die Wolfsbraut“ resümiert: „Also dafür, dass ich dachte, mein Leben ist zu Ende, ist eigentlich noch ’ne ganze Menge passiert.“ Ein klassischer Beiersdorf; letztlich trotz allen Übels positiv, ein bisschen schrullig, selbstverständlich aus der Hüfte geschossen. Oder wie die 3sat-Redaktion das Wirken der Regisseurin vor einigen Jahren in einem besonders knackigen Tautogramm zusammenfasste: „Liebe, Lust und Lebensängste“. Schwer daneben liegt sie damit nicht.

■ „Der sexte Sinn“ (1984, 35 mm, Farbe, 85 Min.): Brotfabrikkino, Caligariplatz 1, 11.–16. November, 18 Uhr, am 11. November in Anwesenheit von Koregisseur Lothar Lambert und Darstellerin Ulrike S.