IM TROPENAQUARIUM GEWINNT MAN GRUNDSÄTZLICHE EINBLICKE IN DIE WELT DER PÄDAGOGIK. DIE LASSEN EINEN EHER TRAURIG WERDEN
: Ansteller oder Schubser

Foto: Lou Probsthayn

KATRIN SEDDIG

Ich war im Tierpark Hagenbeck im Tropenaquarium. Das Wetter war schlecht, es war düster und es regnete, die Teenager waren nur mäßig begeistert, aber ich hielt es für eine gute Idee, weil es war düster und es regnete. Im Tropenaquarium dagegen würde es warm, feucht und tropisch sein. Wir würden uns in dieser Wärme entspannen und erholen und ganz wunderbare Eindrücke von Tieren und Pflanzen sammeln. Dachte ich mir.

Warm war es wirklich. Und sonst? Die meisten Leute hatten ein bis zwei Kinder dabei. Viele hatten auch ein Baby dabei. Sie drückten das Baby an die Scheiben der Aquarien und die Babys fingen irgendwann an zu schreien. Es gab insgesamt sehr viel Geschrei. Es war wie im echten Dschungel, nur, dass nicht die Affen brüllten oder die Papageien, es waren die Kinder. Die um einen herumrannten und an einen anstießen und schubsten.

An den meisten Guckscheiben musste man sich anstellen, es war nicht direkt vorgeschrieben, aber man tat es eben, weil man rücksichtsvoll und höflich sein wollte. Mit Ausnahme der Leute, die es nicht taten, sondern sich sozusagen von vorne reindrückten. Die Kinder drückten sich eigentlich immer von vorne rein. Weswegen man es aufgab, sich an manchen Scheiben anzustellen, es gab einfach keinen Fortschritt. Und es gab zu viele Kinder, die sich auf körperbetonte Weise Platz verschafften.

Mein 14-jähriger Sohn, der vor einem kreisrunden Einblick in ein Riesenaquarium hockte, wurde von einem etwa Fünfjährigen schwungvoll zur Seite geschubst. Mein Sohn richtete sich wieder auf, woraufhin der Fünfjährige erst seine Mutter anlächelte, dann meinen Sohn ein weiteres Mal zur Seite schubste, um sich selbst vor dem kreisrunden Einblick zu positionieren. Ich dachte mir, dass in früheren Zeiten, als die Sitten noch rauer waren und das Gesetz der Stärke noch galt, ein Fünfjähriger so etwas nicht gewagt haben würde, weil er sonst von dem Vierzehnjährigen ordentlich eine geknallt bekommen hätte.

In den gar nicht so fernen Zeiten, da ich ein Kind war, hätte auch ich eine geknallt bekommen, von meiner Mutter oder wem Zuständigen. Vordrängeln, ob vor Kindern oder Erwachsenen, war uns damals nicht erlaubt. Mittlerweile hat es sich alles viel natürlicher entwickelt. Renn vor! Nimm dir dein Recht! So geht die Welt. Oder: „Immer Recht haben, immer vorwärtskommen und nie zweifeln – sind das nicht die großen Eigenschaften, durch die die Mittelmäßigkeit die Welt beherrscht?“ (W.M.Thackeray aus ‚Jahrmarkt der Eitelkeiten‘). So ging die Welt schon immer?

Eltern haben die Entscheidung zu treffen, ihr Kind entweder zum Ansteller oder zum Schubser zu erziehen. Ganz natürlich ist das Schubsen. Aber schlag dann mal auf natürliche Weise eines von den Schubserkindern, dann ist der Affe los und die Kindesmutter kommt dir auf den Hut.

Ich will gerecht sein, das Tropenaquarium ist eine schöne Anlage, tolle Fische und echte Krokodile. Dass die Unmengen an Anderthalbjährigen, die an 134 Scheiben gedrückt wurden, bei dem Anblick eines Huhnes ebenso begeistert gewesen wären wie bei dem Anblick eines Leguans, und dass sie vielleicht deshalb schreien weil, dieses Hell-Dunkel, diese Farbexplosionen und diese Unmengen an anderen schreienden Kindern sie überfordern, das dachte ich mir nur so in meiner negativ getönten Grundstimmung. „Nemo! Das is’ Nemo!!!! Oma, Nemo!!! Kuck ma’, was der macht. Der schwimmt so. Nemo is’ so süß.“ Stumpf und mit dröhnendem Kopf verließen wir die Tropenhölle. In der Bahn sagte mein Sohn: „Am besten fand ich die Ameisen.“ „Ja“, sagte ich, „die Ameisen waren auch ganz leer.“  KATRIN SEDDIG

Katrin Seddig ist Schriftstellerin in Hamburg, ihr jüngstes Buch, „Eheroman“, erschien 2012. Ihr Interesse gilt dem Fremden im Eigenen.