Schön, schaurig und märchenhaft

Der 9. November 1989 ist ein Donnerstag gewesen. Also war es wohl am darauffolgenden Freitag, als ich am Horizont, auf einer nordhessischen Landstraße, den Zug der Trabis gen Westen gesehen habe. Ich habe da wohl gerade mit einer Zigarette vor einer Jugendherberge gestanden, wo sich unsere Literaturzeitschrift mit dem schönen Namen „gegenstand“ zu einem Redaktionswochenende traf.

Ich habe die Trabis gesehen. Und dann habe ich meine Zigarette ausgedrückt, bin ich wieder rein und habe über die umstürzlerische Kraft der Literatur diskutiert. Die 1980er Jahre waren, egal was heute erzählt wird, eines der langweiligsten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Mein Versuch, der Öde zu entkommen, war die DDR. Im Herbst 88 fuhr ich zwei Wochen lang mit dem Rad von Ostberlin nach Rostock und zurück; und fand das Land märchenhaft. Also schön und schaurig, voll unberührter Wälder, tiefer, trauriger Menschen, voller Pfarrer, die Franz Josef Strauß verehrten, und solcher, die genau wussten, dass die Sache nicht mehr lange halten würde. Ich besuchte Jugendclubs, die schon so aussahen wie die improvisierten Kneipen Anfang der 1990er. Ich habe an einer Sitzung der Umweltbibliothek im Prenzlauer Berg teilgenommen, nachdem ich vorher zum „Bärenblut“-Holen geschickt worden war.

Und trotzdem ich viel mehr von der DDR gesehen habe als die meisten Gleichaltrigen im Westen, habe ich sie nicht verstanden. Ich habe Brecht gelesen, ich habe Heiner Müller verehrt, und ich habe bei Konrad Wolfs Film „Ich war 19“ Tränen der Wut geweint, als am Schluss die SS-Mörder sich nach Westen absetzen. Und wahrscheinlich habe ich genau daran gedacht, als ich damals die Trabis sah.

■  Ambros Waibel, Jahrgang 1968