Sitzen in Bewegung

Moderne Bürostühle zwingen die Benutzer, ständig in Bewegung zu bleiben. Der Gang zum Kopierer oder die zeitweilige Arbeit an einem Stehpult verstärken den Effekt. Spezielles Mobiliar soll gar die Fruchtbarkeit des Mannes erhalten

von GERNOT KNÖDLER

Der Suppenkasper hat‘s gewusst: Stillsitzen ist vom Übel. Rechtwinklig und steif zu verharren wie die Großmutter, das lässt sich vielleicht für die Dauer einer Mahlzeit aushalten. Wer seine Arbeitstage so verbringt, muss sich aber nicht wundern, wenn er Rückenschmerzen und einen verspannten Nacken bekommt. Arbeitsmediziner und Hersteller sind sich inzwischen weitgehend einig, was einen gesunden Bürostuhl auszeichnet: der Drang zur Bewegung. Passend zur aktuellen Debatte über den Geburtenrückgang gibt es jetzt außerdem Drehstühle, die die (männliche) Zeugungsfähigkeit erhalten sollen.

Fakt ist, dass wir zu viel sitzen, sagt Volker Timm, Feldenkraislehrer und Geschäftsführer des Hamburger Möbelhauses Ergo, das sich auf körpergerechte Möbel spezialisiert hat. Den Büromenschen von heute sieht er als Sklaven seines Computer-Bildschirms, der ihn die meiste Zeit des Tages auf eine bestimmte Körperhaltung fixiert. Wer dann auch noch einen alten Bürostuhl mit starrer, waagerechter Sitzfläche hat, kann sich gleich bei einer Rückenschule oder fürs Pilates-Training anmelden.

Sitzen mit scharfem Knick behindert die Verdauung

Mit einem rechtwinkligen Knick auf einem Stuhl zu sitzen, klemmt den Bauch ein und behindert die Darmperistaltik. „Eine schlechte Verdauung trägt wesentlich zu Rückenschmerzen bei“, warnt Timm.

Doch das verstärkt nur das zentrale Problem des Sitzens auf steifen Stühlen. Wer sich auf einer starren Fläche sitzend nach vorne beugen will, um zu schreiben, muss seine Wirbelsäule rund machen. Dadurch werden die Bandscheiben als Puffer zwischen den Wirbeln gequetscht. Geschieht das andauernd und statisch, leiden sie. Selbst wenn sich der Büromensch entspannt, bringt das keine Entlastung: An der starren Rückenlehne entlang rutscht er nach unten und nach vorn. Die ungesunde Biegung der Wirbelsäule bleibt.

Bei den Bürostühlen, wie sie die Berufsgenossenschaft Druck und Papier empfiehlt, sind deshalb Sitzfläche und Rückenlehne in einem beweglichen System miteinander verbunden. Die Lehne unterstützt den s-förmigen natürlichen Schwung der Wirbelsäule. Neigt sich der Mensch nach vorne, neigen sich Sitzfläche und Rückenlehne mit. Der Mechanismus vermindert überdies den Druck auf die Oberschenkel und ist daher wiederum gut für deren Durchblutung.

Eine kippelige Sitzfläche hilft auch, die Bandscheiben mit Nährstoffen zu versorgen. Diese Gallertpäckchen werden nicht durchblutet, sondern sie ernähren sich nach dem Prinzip des Schwamms: Belastung presst sie aus, Entlastung lässt sie Flüssigkeit und damit Nährstoffe aufnehmen.

„Die Bandscheibe lebt von Bewegung“, mahnt die Berufsgenossenschaft – ein Prinzip, das die Balans-Stühle der Firma Stokke besonders beherzigen. Statt vier Beinen haben diese Stühle zwei Schaukelkufen. Am einen Ende tragen sie eine schräge Sitzfläche, am anderen zwei Polster für die Schienbeine oder Knie. Wer hierauf sitzt, dessen Becken kippt leicht nach vorne, der Bauch wird frei, die Wirbelsäule richtet sich automatisch auf. Auf einem Balans krumm zu sitzen, ist schwierig. Neigt sich der Mensch zum Schreibtisch, wiegt sich der Stuhl nach vorne. Wird das Knien beschwerlich, kann man zwischen den beiden Kniepolstern hindurch bequem die Beine ausstrecken.

Einen neuen Clou hat sich der Bürostuhl-Hersteller Gernot Steifensand ausgedacht: die hodenfreundliche Sitzfläche (www.sitwell.de). Diese ist etwas verkürzt und hat eine Vertiefung, die von der Rückenlehne bis nach vorne reicht. Ähnlich wie bei der neuesten Generation von Fahrradsätteln wird das empfindliche Gewebe des Damms entlastet. Die Hoden sollen kühl bleiben, die Spermien fit.

Der beste Bürostuhl ist allerdings für die Katz, wenn er nicht zum Schreibtisch passt. Der Feldenkraislehrer Timm und seine Mitarbeiter gestalten deshalb komplette Arbeitsplätze. „Wenn ich gut sitzen will, muss ich erstmal wissen: Wie hoch muss mein Tisch eigentlich sein?“, sagt Timm. Vielen Menschen mangele es an Körperbewusstsein, um Fehlhaltungen an ihren Arbeitsplätzen rechtzeitig zu erkennen – bevor es weh tut. Wenigstens sollten die Arme entspannt die Tastatur bedienen können, ohne dass die Beine in der Luft baumeln.

Der Gang zum Kopierer fördert die Gesundheit

Der beste Sitzplatz ersetzt allerdings nicht das gelegentliche Aufstehen. Jeder Gang zur Kaffeemaschine, zum Drucker oder zum Kopierer – am besten unter Bewältigung eines Treppenabsatzes – fördert die Gesundheit. Timm offeriert deshalb Arbeitsplätze, an denen sowohl im Sitzen als auch im Stehen geschuftet werden kann. Darunter sind Schreibtische mit verstellbaren Tischplatten und solche mit zwei verschieden hohen Platten Rücken an Rücken. Der Bildschirm kann durch einfaches Drehen ausgerichtet werden.

Wer sich solch eine voluminöse Lösung nicht leisten kann, für den tut es auch ein Bistro-Stehtisch für Besprechungen, Kaffeepausen oder Telefonate.