Diagnosen unter Druck

Nach dem Bundesliga-Ende und kurz vor der Fußball-WM kommt viel Arbeit auf die Vereinsärzte zu. Mancher der Doktoren ist längst selbst zum Star geworden, wie eine Ausstellung in Berlin zeigt

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Donnerstagabend im Giuseppe-Meazza-Stadion zu Mailand. Es waren 53 Minuten gespielt. Der FC Internazionale führt im Rückspiel des italienischen Pokalfinales mit 2:0 gegen AS Rom. Der Trainer der Hauptstädter Roberto Mancini muss reagieren. Er schickt Francesco Totti auf den Platz. Zweieinhalb Monate hatte der Römer pausieren müssen, nachdem er sich das Wadenbein gebrochen hatte. Schon am Spielfeldrand hatte Mannschaftsarzt Mario Brozzi die schwere Verletzung diagnostiziert. Totti wurde noch am selben Tag operiert. Einen Tag später trat Brozzi vor die Reporter. Zwei, eher drei Monate werde es dauern, bis der Spielmacher wieder seinen Beruf ausüben könne. Die WM-Teilnahme Tottis, für den in der Nationalmannschaft Italiens eine wichtige Rolle reserviert ist, schien in Gefahr zu sein. Vergangene Woche gab Roms Teamarzt Entwarnung. Seitdem gehört Totti wieder zum Kader der Roma. Er wird wohl auch bei der WM für Italien auflaufen. Es sei denn, der Teamarzt hat zu früh grünes Licht für einen Einsatz Tottis gegeben.

Die Sportärzte der Vereine und Nationalmannschaften stehen kurz vor der Weltmeisterschaft unter einem besonderen Druck. Sie müssen entscheiden, ob ein Spieler gesund ist oder nicht. Aber auch wenn kein großes Turnier ansteht, handeln die Teamärzte in einem ganz besonderen Spannungsfeld. „Die Spieler sind das Kapital des Vereins und der Verein möchte, dass die Behandlung ohne Verzögerung und Fehler verläuft“, sagt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, Bayerndoktor und Teamarzt der deutschen Nationalmannschaft. Vorgestern war Christoph Metzelder, Abwehrspieler von Borussia Dortmund, in Müller-Wohlfahrts Münchner Praxis. Metzelders Vereinsarzt hatte einen Muskelfaserriss in der Wade diagnostiziert. Der Nationalmannschaftsarzt bestätigte die Diagnose und riet Metzelder zu zwei Wochen Pause. Am Dienstag versammelt sich die Nationalmannschaft auf Sardinien zu einem ersten Trainingslager. Metzelder wird nicht mitmachen dürfen, auch wenn ihn Jürgen Klinsmann in das Aufgebot beruft, das er am Montag verkünden wird. Die Diagnose könnte durchaus Einfluss auf Klinsmanns Entscheidung haben.

Müller-Wohlfahrt hat gelernt, mit dem Druck umzugehen, der auf ihm als Teamarzt lastet. Seit 1976 ist er bei den Bayern. Viele Spieler bekommen leuchtende Augen, wenn sie über ihren Doktor sprechen. Mit ganz eigenen Methoden, die oft über die der Schulmedizin hinausgehen, hat sich der Homöopath über die Jahre Anerkennung verschafft. Nicht nur bei den Profis. Er ist auch für viele Freizeitsportler so etwas wie ein Medizinguru. Sie schwören auf ein von ihm entwickeltes Nahrungsergänzungsmittel. Der Doktor ist selbst zum Star geworden.

Sein Hauptjob ist jedoch die Sportmedizin. Auch hier arbeitet er anders als viele Kollegen. Muskelverletzungen diagnostiziert er mit geschlossenen Augen und bloßen Händen. Als Michael Ballack beim Länderspiel der Deutschen gegen Frankreich im vergangenen November mit schmerzverzerrtem Gesicht neben der Seitenauslinie lag, steckte Müller-Wohlfahrt seine Fühler ganz tief in Ballacks Muskelgewebe. Mit geschlossenen Augen massierte er sich von Faser zu Faser. „Michael, ich habe keine Faserunterbrechung gefühlt“, sagte er dann. Kurz darauf stand Ballack wieder auf dem Feld. Er hat seinem Doktor vertraut.

Nicht immer aber wollen die Spieler dem ärztlichen Rat folgen. Müller-Wohlfahrt musste sich schon manches Mal gegen den Willen der Spieler durchsetzen. Die wollen trotz schwerer Verletzungen nämlich oft weiterspielen. Lothar Matthäus sei in dieser Hinsicht ein ganz besonders schwerer Fall gewesen, berichtet Müller-Wohlfahrt. Mit medizinischen Modellen und Audio-Stelen dokumentiert die Berliner Ausstellung „Platz.Wunden“ diese und weitere Anekdoten aus dem Leben eines Fußballarztes. Organisiert hat die Schau auf dem Gelände des Universitätsklinikums Charité das Medizinhistorische Museum.

Einer der Protagonisten der Exposition ist Joe Simunic. Der kroatische Nationalspieler konnte, bevor er 2000 vom Hamburger SV zu Hertha BSC Berlin wechselte, eineinhalb Jahre überhaupt nicht Fußball spielen. Der Grund war ein diffiziler Mittelfußbruch. Dem Mittelfuß hat sich auch Englands Stürmerstar Wayne Rooney gebrochen. Das war vor zwei Wochen. Dennoch hat ihn Sven-Göran Eriksson in das Aufgebot für die WM berufen. Ob er zum Einsatz kommen wird, ist durchaus fraglich.

Für Francesco Totti sieht es da wesentlich besser aus. Der konnte am Donnerstag beschwerdefrei durchspielen. Geholfen hat es den Römern nicht. Inter gewann 3:1 und ist nach dem 1:1 vom Hinspiel wie schon im Vorjahr italienischer Pokalsieger.