Tod in Berlin

Die Ambivalenz der Generation der Post-Achtundsechziger zwischen Karriere und Rebellion, Anpassung und Engagement: Lukas Hammerstein erzählt in seinem neuen Roman „Video“ ein Stück bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte. Eine Hauptfigur des Romans: ein prominenter Grünen-Politiker

von CHRISTOPH SCHRÖDER

An einem Junitag im Jahr 2005 gehen sie zum letzten Mal durch die Wohnung in Bonn, einen einzigen großen Raum, Sichtbetonwand, kühle Sechzigerjahremöblierung, Tausende von Schallplatten, die nicht nach Berlin mitgenommen wurden. Es ist ein Abschiedsbesuch. Piet Escher, der Besitzer der Wohnung, ist tot. Der Ich-Erzähler, Piets bester Freund, ist zur Testamentseröffnung von München nach Bonn gekommen. Was er gefühlt habe, fragt ihn seine Begleiterin, als er von Piets Selbstmord gehört habe; „Freitod“, korrigiert er; Tod durch Ausbluten in jedem Fall. Sie sitzen in der Wohnung und hören eine der Platten, Bryan Ferry im Duett mit Jane Birkin, dazu trinken sie einen Bordeaux aus Piets Weinschrank. Einen guten, wie sich vermuten lässt.

„Video“ heißt Lukas Hammersteins neuer Roman, ein doppeldeutiger Titel, der einerseits ganz konkret ein Videoband von Piets letzten Minuten meint, andererseits aber auch auf die Erzähltechnik des Romans selbst anspielt: mehr oder weniger kurze Sequenzen, harte Schnitte, chronologische Unordnung. Aus diesen Clips setzt sich nach und nach ein Stück bundesrepublikanischer Mentalitätsgeschichte zusammen. Denn Piet Escher war nicht irgendwer, sondern das prominenteste Mitglied der Grünen, Charismatiker und Reibefläche, eine Galionsfigur, die durch die Jahre hindurch stetig mehr ins Gespräch kam, schließlich im Zuge des Regierungswechsels 1998 folgerichtig nach ganz oben und in Amt und Würden gelangt und später, auf einem Parteitag im Jahr 2002 (in Hannover!), eine Kampfabstimmung verliert und sich aus der Politik zurückzieht. Man könnte der Versuchung unterliegen, „Video“ als Schlüsselroman zu lesen und in der Figur Piet Escher eine simple Postfiguration Joschka Fischers zu entdecken.

Das wäre das Naheliegendste. Allein, darum geht es nicht. Vielmehr erzählt Hammerstein Stationen einzelner Biografien als kollektive Biografie eines Landes und einer Epoche. Von der Studentenzeit im alternativen Freiburger Milieu der Siebzigerjahre (das der Autor aus eigener Erfahrung genau kennt), von der Protestbewegung gegen den Nato- Doppelbeschluss in den Achtzigerjahren, dem Auseinanderdriften des Freundeskreises aufgrund unterschiedlicher Lebensentscheidungen, von Piets Gang durch die Institutionen und Gremien, seinem Außenseiterstatus in der Szene als Jurastudent, von zufälligen und weniger zufälligen Begegnungen, von Hochzeiten, Parteiveranstaltungen.

Und vom Ende auf einem Flugzeugfriedhof in der Wüste von Arizona. Immer wieder sind es drei Figuren, an die sich das Geschehen anlagert: Piet, der vermeintlich kühle Analytiker, Hedonist und Frauenschwarm, der sich, so scheint es, zu einem ziemlich zynischen Kotzbrocken entwickelt hat, dessen eigentliche Disposition jedoch bis zum Schluss in der Schwebe gehalten wird. Man kommt an keiner Stelle des Romans wirklich dahinter, ob er aus Überzeugung, aus Machtgier oder aus eben jener kuriosen Motivmelange aus beidem handelt, das einen Menschen wie ihn nun einmal auszuzeichnen scheint. Dann der Ich-Erzähler, der seinen gut bezahlten Job als Unternehmensberater aufgibt und zum Angsttherapeuten umschult (auch das ein paradigmatischer Werdegang der deutschen Gegenwart). Schließlich Maria, die Adoptivschwester des Ich-Erzählers, Projektionsfläche des sexuellen und sonstigen Begehrens beider.

Es ist nicht alles gelungen an diesem Roman. Gerade Maria, um die sich alles dreht, bleibt als Charakter ebenso unsympathisch wie quasi nichtexistent, eine Hülse, allerdings auch für die Figuren selbst. Dass ein Grünen-Politiker sich nach seiner Entthronung ausgerechnet als Flugzeugfriedhofswächter in Arizona verdingt, ist tendenziell unwahrscheinlich und auch aus der inneren Psychologie des Romans schwer erklärbar, es sei denn, man zöge Eschers Faible für große Auftritte (und Abgänge) zur Erklärung heran (oder eben den pittoresken Reiz des Schauplatzes). Auch der zum Leitmotiv erhobene Versuch des Erzählers, sich das Rauchen abzugewöhnen, ist relativ nervig.

All das allerdings verzeiht man gern angesichts der Tatsache, dass „Video“ sehr starke Szenen, Dialoge (der beste davon ist ein nächtliches verbales Pingpong zwischen dem Erzähler und seiner künftigen Frau von einem Hotelzimmer zum anderen) und frappierend gut geschriebene Kapitel enthält, die nicht nur eine unklare Geisteshaltung analysieren, sondern diese auch in atmosphärischer Sprache einzufangen vermögen.

Lukas Hammerstein hat einen intelligenten, spannenden und unterhaltsamen Gegenwartsroman geschrieben. In der Zerrissenheit und Angespanntheit der Freundschaft der beiden Hauptfiguren spiegelt sich auch die Ambivalenz einer Generation, die der Post-Achtundsechziger, zwischen Karrierismus und Rebellion, zwischen Anpassung und Engagement. Woran soll man hier noch glauben? Und wem? Escher scheint seinen besten Freund kurz angelogen zu haben, selbst ihn, selbst kurz vor seinem Tod. Zum Abschied stehen ein Dutzend Menschen Champagner trinkend und vollkommen betrunken um einen Swimmingpool herum. Jemand singt „This Love“, eines von Piets Lieblingsliedern. Ist das Ironie, Pathos oder beides? Dann wird Eschers Asche in alle Winde verstreut. Nicht der schlechteste Abgang. Eine Inszenierung, versteht sich, selbst post mortem noch.

Lukas Hammerstein: „Video“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006. 240 Seiten, 18,90 €