Reform halbiert das Vetorecht der Länder

Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes verschafft der Föderalismusreform und ihren Anhängern Auftrieb. Die Annahmen sind allerdings geschönt. Und ob die schwierigen Großreformen von Rente oder Gesundheit profitieren, bleibt unklar

VON CHRISTIAN RATH

Die Befürworter der Föderalismusreform haben ein neues starkes Argument auf ihrer Seite. Die geplanten Verfassungsänderungen scheinen tatsächlich geeignet, den Anteil der Gesetze zu halbieren, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen. Dies ergab ein Gutachten, das der Wissenschaftliche Dienst (WD) des Bundestags im Auftrag des Abgeordneten Olaf Scholz (SPD) erstellt hat. „Die Föderalismusreform wirkt“, sagte Scholz, der parlamentarische Geschäftsführer seiner Fraktion, gestern.

Das Gutachten kommt rechtzeitig vor der größten Anhörung, die der Bundestag je gesehen hat. Ab Montag sollen an insgesamt sieben Tagen zu allen Fragen der Föderalismusreform Sachverständige gehört werden.

Ziel der Reform ist eine Entflechtung von Bund und Ländern. Der Bundesrat, die Länderkammer, soll deutlich weniger Vetorechte in der Bundespolitik bekommen. Als Ausgleich dafür will der Bund den Ländern zahlreiche Politikfelder (von Hochschulen bis Strafvollzug) zur eigenständigen Gestaltung überlassen. Es war allerdings bezweifelt worden, ob die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze durch die Reform tatsächlich sinkt – oder nicht sogar steigt.

Solche Befürchtungen dürfte das gestern vorgestellte Gutachten nun erst einmal ausräumen. Untersucht wurde, bei wie vielen Gesetzen der Bundesrat ein Vetorecht gehabt hätte, wenn schon die neuen Föderalismusregeln gegolten hätten. Das Ergebnis ist beeindruckend. In der letzten Wahlperiode von 2002 bis 2005 wäre der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze von 51 Prozent auf 24 Prozent gefallen. In der Periode davor, von 1998 bis 2002, hätte sich dieser Anteil sogar noch deutlicher von 55 Prozent auf 25 Prozent reduziert.

Die Reform würde den Einfluss der Länder damit auf ein historisches Tiefstmaß senken. Selbst in der ersten Wahlperiode ab 1949 benötigten bereits 40 Prozent der Bundesgesetze das Placet des Bundesrats. In der Gesamtzeit von 1949 bis 2005 lag der Schnitt bei 53 Prozent. Der Bundesrat (oft von der Opposition dominiert) könnte nach der Reform also seltener blockieren. Viel weniger Gesetze müssten in den Vermittlungsausschuss.

Erreicht wird das Ergebnis vor allem durch eine Änderung von Artikel 84 des Grundgesetzes. Bisher musste der Bundesrat allen Gesetzen zustimmen, die das Verwaltungsverfahren der Länder regeln. Knapp 30 Prozent aller Gesetze waren betroffen. Diese Bestimmung soll entfallen, weil die Länder von Verfahrensregeln im Bundesgesetz künftig abweichen können.

Allerdings wurde zugleich in Artikel 104a ein neues Zustimmungsrecht des Bundesrats eingeführt. Bisher musste er nur zustimmen, wenn die Länder zu Geldleistungen an Dritte verpflichtet werden, künftig soll dies auch bei „geldwerten Sachleistungen“ gelten, also zum Beispiel wenn der Bund beschließt, dass die Länder (und Kommunen) Kinder betreuen, Schuldner beraten oder Asylbewerber unterbringen müssen. Gemäß der Studie ist die Zahl solcher Gesetze aber überraschend klein und liegt bei lediglich etwa einem Prozent. Die Absenkung auf der einen Seite würde also bei weitem nicht an anderer Stelle kompensiert.

Relativiert wird die Aussagekraft des Gutachtens jedoch, weil das Gutachten unrealistische Annahmen unterstellt. So sieht der aktuelle Entwurf der Föderalismusreform nämlich vor, dass der Bund durchaus noch bundesweit verbindliche Verfahrensregeln beschließen kann – wenn ein besonderes Bedürfnis besteht, etwa im Umweltrecht. Zum Ausgleich hat der Bundesrat dann wieder ein Vetorecht.

Natürlich weiß niemand, wie oft der Bundestag von dieser neuen Möglichkeit Gebrauch machen wird. Das WD-Gutachten unterstellt aber einfach, dass dieser Fall nicht vorkommt, was reichlich weltfremd ist und zugleich das Ergebnis zugunsten der Reformbefürworter schönt.

Auf einen anderen Punkt macht der SPD-Abgeordnete Christian Lange aufmerksam: „Es geht nicht nur um Quantität, sondern auch um Qualität.“ Entscheidend sei, wie sich die Vetorechte bei den großen Reformvorhaben um Rente, Gesundheit und Arbeitsmarkt entwickeln. Das Zuwanderungsgesetz wäre jedenfalls auch nach der Reform zustimmungspflichtig gewesen, weil die Länder zu Ausgaben für Integrationskurse verpflichtet werden.