: Wie vergangenes Leid in die Gegenwart ragt
FILM Mit „Première Brasil“ ist im Haus der Kulturen der Welt gerade ein Best-of-Programm des neuen brasilianischen Kinos zu sehen
■ Bereits zum fünften Mal wird mit „Première Brasil“ im Haus der Kulturen der Welt ein Best-of der gleichnamigen Sektion des „Rio de Janeiro International Film Festivals“ gezeigt. Die Reihe mit den brasilianischen Neuproduktionen läuft bis zum 17. November, zum Teil mit den Regisseuren zu Gast. Neben dem Filmprogramm gibt es heute am Samstag um 18 Uhr eine Podiumsdiskussion über den gefährdeten Regenwald des Amazonasbeckens, auch mit der Frage, wie sich dabei die Filmemacher positionieren. Zur Diskussion ist der Eintritt frei, Einzelkarten zu den Filmen gibt es für 5/3 Euro. Programm: www.hkw.de
VON LUKAS FOERSTER
Unter dem See gibt es immer noch tonnenweise Gold, ist sich der Mann mittleren Alters sicher. Die Gegend, durch die er das Filmteam führt, wirkt heute idyllisch-verschlafen. In den 1980er Jahren hatte sich der Mann mit hunderttausend anderen aus dem ganzen Land, vor allem aus dem bitterarmen Nordosten, hierher, in die Serra Pelada, einen Landstrich inmitten des brasilianischen Dschungels, aufgemacht. Wo jetzt der See in der Abendsonne glitzert, befand sich vorher ein Hügel. Und in dem Hügel war eines der reichhaltigsten Goldvorkommen Brasiliens entdeckt worden.
Victor Lopes’ Dokumentarfilm „Serra Pelada – A lenda da montanha de ouro“ („The Legend of the Mountain of Gold“) erzählt die aberwitzige Geschichte eines Goldrauschs, der für ein paar Jahre die Dimensionen eines nationalen Projekts angenommen hatte. Organisiert von einem aus heutiger Perspektive reichlich zwielichtigen Volkstribun, der auf dem Höhepunkt seiner Macht eine ganze Stadt gründete und ihr seinen eigenen Namen gab, formierten sich die Garimpo, die Goldgräber aus der Provinz, zu einer politischen Bewegung, die gegen einige Großunternehmen das Recht erstritt, sich auch weiterhin Illusionen hingeben zu dürfen.
Denn selbstverständlich gingen die allermeisten Garimpo, die sich unter grausamen Lebens- und Arbeitsbedingungen für ein paar Jahre durch den Berg wühlen konnten, komplett leer aus. Selbst die wenigen Glücklichen, die auf Edelmetall gestoßen waren und ein paar Jahre lang ein glückliches Abenteurerleben genießen durften, leben heute oft wieder so ärmlich wie vor dem Goldfund.
Apokalyptische Landschaft
Victor Lopes findet einige von ihnen wieder, sie wohnen immer noch in der Nähe des einstigen Eldorado und spekulieren auf einen neuen Anlauf. Der Film stellt diese Porträts neben historische Fernsehbilder des Goldrauschs, die teilweise wie aus einem anderen Jahrtausend übermittelt oder zumindest einem besonders aufwendigen Monumentalfilm entnommen wirken: Kameraschwenks über Abertausende Menschen, die fiebrig eine apokalyptische Mondlandschaft bearbeiten.
Dieses Zeugnis einer sozialen Mobilisierung, die alle Kategorien moderner Gesellschaften aufsprengt, ist Teil der Filmreihe „Première Brasil“, die im Haus der Kulturen der Welt einige Höhepunkte des „Rio de Janeiro International Film Festival“ präsentiert. Im Fokus steht das dokumentarische Kino, das in der komplexen Geschichte der nach wie vor jungen Nation Brasilien ebenso faszinierendes Material findet wie in der aus dieser Vergangenheit hervorgegangenen, nicht minder problematischen Gegenwart.
Dicht an aktuellen Diskussionen entlang und gleichzeitig tief in die Geschichte hinein bewegt sich zum Beispiel „Raça“ („Race“) von Joel Zito Araújo und Megan Mylan, ein beeindruckender, vielschichtiger Film, der sich mit dem Mythos von Brasilien als einer postethnischen Gesellschaft beschäftigt: In dem Land, in das die weltweit meisten Afrikaner als Sklaven verkauft wurden und in dem die Sklaverei länger überlebte als in allen anderen westlich geprägten Ländern, weigern sich immer noch viele, auch nur die theoretische Möglichkeit von Rassismus zu akzeptieren. „Raça“ antwortet darauf mit drei Porträts von Menschen, deren Alltagsleben in jeder Hinsicht von ihrer nichtweißen Ethnizität bestimmt bleibt.
Auch einer der schönsten brasilianischen Spielfilme der letzten Jahre zeigt, wie vergangenes Leid und Unrecht in die Gegenwart hineinragen; und zwar auch dort, wo diese Gegenwart hinreichend saturiert erscheint und ihre Vertreter vom Rest ihrer Zeitgenossen abgeschirmt sind durch Sicherheitskameras und Wachschutz: Kleber Mendonça Filhos Querschnittsfilm „O Som ao Redor“ („Neighboring Sounds“) spielt in und um einige Wohnblöcke in einem Mittelklasseviertel von Recife. Ohne ein konstantes personelles oder dramaturgisches Zentrum bewegt sich der Film flüssig durch einige Lebensentwürfe: Hausfrauen, die ihre Langeweile durch Nachbarschaftsspionage und Joints vertreiben, harte Jungs aus den Favelas, die für die Sicherheit verzogener Wohlstandskids verantwortlich sind, ein Immobilienmakler, der behauptet, in den Häusern, die er verkauft, würde es nicht spuken – nach dem Film weiß man es besser.
Die nicht so einfach lesbaren und mit einer aufwendig gearbeiteten, von elektronischen Sounds durchsetzten Tonspur unterlegten Bilder verknüpfen Anekdotisches ansatzlos mit Träumen; hinter den Bildern spukt, als Grundlage des gegenwärtigen Wohlstands, eine blutige Vergangenheit. Die Spuren führen ebenfalls in den Dschungel – zwar nicht in eine Gold-, dafür aber in einer Zuckermine.