Die Zukunft ist heute

Science ist gar keine Fiction mehr. Über Kaugummis, Spione und Normalität

■ ist Wissenschaftsjournalistin und Meinungsredakteurin der taz in Berlin. Sie studierte Biochemie in Bochum und guckt viele Serien.

Vor zehn Jahren war ich einmal Zeuge eines etwas befremdlichen Experiments. Mitten im Bremer Steintorviertel eröffnete ein kleiner Laden, mit Deko und Stehtischen auf dem Bürgersteig. Es wurden Kaugummis verteilt. Leute schoben vorbei. Manche gingen rein, tranken einen Schluck, aßen einen Keks und informierten sich zwischen aufgestellten Apfelbäumchen über die Produkte. Es ließen sich so allerlei Pakete buchen.

Für ein perfektes Kind. Für eine optimierte Gesundheit. Für einen Blick in die Zukunft. Mithilfe der Gene. Und während die Kunden andächtig lauschten, was sich mit ihrer genetischen Information so alles anstellen ließe, wurden gekaute Kaugummis eingesammelt und in kleine Tüten gesteckt. Alle fanden das völlig normal. Personalisierte Medizin und so.

Es ist sehr ähnlich jetzt. Auf der ganzen Welt werden digitale Kaugummis in Festplattentüten gesteckt. Kaugummis mit sehr konkreten Informationen, Aussagen über die Wechselwirkungen in dieser Welt.

Während die Menschen lesen, was mit ausgespähten Daten alles anzufangen wäre, sammeln Geheimdienste ihre Kaugummis ein. Auch das finden viele offenbar normal. Geheimdienste machen so etwas nun mal. Terrorbekämpfung und so. Und die Amerikaner sind ohnehin paranoid und hysterisch, sie sind „Homeland“ wie die Fiktion in der Serie, die „ziemlich nah“ dran ist an der Wirklichkeit. Das zumindest glaubt der Spiegel zu erkennen. Womöglich steckt da auch ein Funken Wahrheit drin.

Aber alles kann das nicht sein. Es geht hier schließlich nicht nur um die USA, es geht auch um die Menschen hier, mitten in Europa, in Deutschland. Und es gibt diesen Eindruck, dass die Fiktion der Wirklichkeit schon lange nur noch einen kleinen Schritt voraus ist.

Es geht eben nicht mehr um die ganz großen, düsteren Visionen jener Sorte, die man in der Schule noch mal vor Augen geführt bekommen hat: George Orwells „1984“, Aldous Huxleys „Brave New World“, Ray Bradburys „Fahrenheit 451“, Kubricks „2001 – A Space Odyssey“. Werke, die nicht nur bestimmte Motive gesellschaftlicher Fallsucht auf teils gespenstische Weise vorweggenommen, sondern auch den Gebrauch von Technologien angedeutet haben, die gerade erst entwickelt wurden oder gar nicht existierten.

Gerade aus Sicht der Wissenschaft und der Science-Fiction hat sich anstelle solcher dystopischen Fantasien eher dystopischer Realismus etabliert. Es handelt sich immer noch um Fiktion, aber diese bewegt sich eher beiläufig und zugleich sehr nahe an dem, was Wissenschaft wirklich vermag, was Technologien tatsächlich leisten oder anrichten können.

In diesen Geschichten bewegen sich Charaktere, die ihrerseits an Fantastik verloren haben, weil es Gut und Böse nicht mehr gibt, weil der Mensch in seiner Gebrochenheit dargestellt wird und weil er an den selbst gesetzten Grenzen von Moral und Ethik scheitert.

„Homeland“ ist, so gesehen, schon fast ein bisschen von gestern, weil die Drohne über dem Golfplatz keine andere ist als die Drohne über einer Demo in Berlin. Die Technisierung, die dem Geheimdienst in der dritten Staffel droht, ist vermutlich längst vollzogen.

Aber selbst die fantastischeren Serien und Filme, in denen es etwa um künstliche Intelligenz geht oder um menschliche Kolonien im Weltall, sind ziemlich nah an unserer Wirklichkeit: In „Battlestar Galactica“ überlebt die Menschheit nur deshalb, weil das namensgebende Raumschiff nicht ans Netzwerk der übrigen Kolonialflotte angeschlossen ist. Die feindlichen Zylonen, eine bioorganische Roboterform, können deshalb nicht mit ihren Viren in die Bordcomputer eindringen – während der Rest der Welt von atomaren Detonationen zerfetzt wird. Völlig fiktiv, sehr realistisch: Als der Gegner es in menschlicher Gestalt auf die „Galactica“ schafft und dort säuft, Karten spielt und liebt, wird mit DNA-Tests nach ihm gefahndet.

Noch viel extremer verbinden sich künstliche Intelligenz und menschlicher Alltag in der schwedischen Serie „Real Humans“: Die Hubots sind hier Gegenstand moderner Sklaverei. Sie putzen, dienen als Sexspielzeug, manche können fühlen. Aber statt Anerkennung ernten sie Diskriminierung. Einige wehren sich. Das Motiv ist bekannt, aber mit „Blade Runner“ hat das dennoch nichts mehr zu tun, weil der Alltag, in dem das alles passiert, mitsamt den Menschen darin von heute ist.

Und auch im SF-Film „Gattaca“ fahren die Autos noch auf Rädern, aber eine genetische Analyse und ein bisschen Präimplantationsdiagnostik am Anfang reichen für das Science in der Fiktion aus. Alles andere erscheint selbst in der gestylten Umgebung ziemlich nahe an der menschlichen Wirklichkeit.

Und die Betrachter? Sie haben sich daran gewöhnt und akzeptiert: Der Mensch steht heute eben nicht mehr auf der Schwelle zum digitalen, technisierten, psychologisierten, biologisierten und ökologisierten Zeitalter – er steckt mitten drin. Die Darstellungen dieser Wirklichkeiten, die tatsächlich aber gar nicht der Realität entsprechen, haben aus viel Unerhörtem etwas Vertrautes gemacht. Man könnte von Abstumpfung sprechen, aber eher ist es Gewöhnung: an Spionage, künstliche Intelligenz, Gentechnik. Alles zigmal gesehen, warum also aufregen, wenn es in der Wirklichkeit ankommt?

Das Erstaunliche ist, dass es die Aufregung natürlich trotzdem gibt, an anderer Stelle, über eng verwandte Dinge, über die man sich vor dem jeweiligen Hintergrund gar nicht mehr aufregen müsste. Auch in Bremen damals fanden zwar alle irgendwie normal, sich Servicepakete für das Wunschbaby anzugucken. „Gattaca“ war zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre alt. Aber eine Frau kommt einige Stunden nach ihrem Besuch im Chromosoma-Shop zurück, wütend, und fordert ihren Kaugummi zurück. Ihr war klar geworden, dass in dem Ding nun ihre eigenen Zellen steckten, also ihre DNA, ihre Erbinformation, ihre Identität. Die Angebote im Laden hatten sie nicht schockiert, aber das hier machte ihr nun Angst. Was könnte man mit ihrer DNA alles anfangen? Was ließe sich alles über sie herausfinden? Über ihre Zukunft? Sie wusste es nicht, sie hatte nur eine vage Vermutung, aber sie ließ keine Sekunde locker – bis man ihr schließlich sagte, dass die ganze Sache nur ein Fake war.

Es gibt eine Verzerrung in der Wahrnehmung grundsätzlicher Phänomene, in der Gelassenheit vor totaler Überwachung, schleichender Digitalisierung, biochemischer Tiefenerkundungen einerseits und der konkreten, bedrohlichen Situation andererseits, die in der Panik teils völlig überschätzt wird, weil etwa aus dem Genom bis heute noch gar nicht so viel zu lesen ist oder Roboter es mit dem Fühlen noch nicht so haben.

Vergangene Woche, inmitten einer beispiellosen globalen Spähaffäre, hat die britische Supermarktkette Tesco bekannt gegeben, die Gesichter ihrer Kunden künftig für Werbezwecke zu scannen. Datenschützer laufen Sturm, Stern.de vergleicht die Technik mit den Netzhautscans in „Minority Report“, die dem Helden des Science-Fiction-Films auf Schritt und Tritt personalisierte Werbung bescheren. Werden die Menschen nun per Gesichtserkennung demselben Phänomen anheimfallen?

Wer einmal mit einem vier Jahre alten Pass versucht hat, durch eine automatische Grenzkontrolle zu gehen, weiß, wie es um die Gesichtserkennung in der Realität tatsächlich steht. Und wer sich über sie trotzdem Sorgen macht, wäre wohl nicht schlecht beraten, erst mal seine alltäglichen Erkundungen am Computer zu hinterfragen. Personalisierte Werbung gibt es dort schon lange und ziemlich punktgenau, denn jeden Tag spucken wir digitale Kaugummis aus, die gesammelt und in Festplattentüten gesteckt werden. Die zurückzufordern wird nicht so einfach sein.