Grünes Schneckenrennen

KOALITION Die Hinwendung zu den erneuerbaren Energien ist ökonomisch überlebenswichtig. Das haben aber längst nicht alle kapiert

Das ganz große Ding im 21. Jahrhundert ist die Energiewende. Nicht wie in der öffentlichen Debatte hierzulande verengt auf Windräder und Strompreise; Energiewende ist ein Paradigmenwechsel in der Wirtschaft, der alle Bereiche durchdringt: die Art, wie wir uns fortbewegen, wie wir unsere Nahrung anbauen, der Häuser, in denen wir wohnen, der Kühlschränke oder Spülmaschinen, die wir kaufen. Seit Jahrzehnten gibt es einen globalen Trend, effizienter und intelligenter mit dem umzugehen, was der Planet liefert.

Der Wandel ist überlebenswichtig und kapitalistisch-gnadenlos. Wer ihn verpennt, ist weg. Vielleicht gibt es Konzerne wie RWE oder Eon in zehn Jahren einfach nicht mehr. International spricht man von einem „Green Race“, einem grünen Rennen der Volkswirtschaften. Der Markt ist riesig, Technologien für erneuerbare Energien und Energieeffizienz brachten es 2011 zusammen auf 550 Milliarden Dollar Umsatz.

In Deutschland kapieren das längst nicht alle: Ausgerechnet dem selbst ernannten Vorreiter fehlt die Energiewende im Kopf. Das zeigt sich an der Rhetorik der Koalitionsverhandlungen. Die SPD schickt Hannelore Kraft als Wortführerin in die AG Energie vor, und was sagt die als Erstes? Wir müssen Arbeitsplätze in Deutschland erhalten. Das ist so allgemein wie: Sylt darf nicht im Meer versinken.

Kein Zweifel, die Energiewende muss in Deutschland grundlegend reformiert werden. Krafts Fehler besteht darin, dass sie ein längst überholtes Denken bedient: Ökologie, Energiewende, das kostet, da braucht es gestandene Realpolitik, die allzu viel grünen Utopismus mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Deutschland fehlt die Big Story, die Energiewende als Erfolg .

Eine Politikerin muss eben tun, was eine Politikerin tun muss: die Interessen ihrer Klientel bedienen. Industrieverbände wie der BDI, die Stahl- oder Chemiebranche singen die Story vom untergehenden Standort Deutschland, von drohender Deindustrialisierung. Man könnte wohlwollend sagen, weil die Herren verunsichert sind, wie es weitergeht mit der Energiewende; und Verunsicherung ist Gift für die Wirtschaft. Auch Stahlproduzenten und Autobauer sind Menschen, die sich in ihrer Freizeit womöglich Sorgen ums Weltklima machen.

Aber wenn sie im Rudel über die Energiewende heulen, verbauen sie sich die eigene Zukunft. Denn die Dissonanzen, die Politiker wie Kraft oder Verbände wie der BDI erzeugen, sind mehr als ein internationales PR-Problem des Standorts Deutschland. Die große Aufgabe der nächsten Regierung besteht darin, Europa zu überzeugen, was angesichts des heimischen Panikorchesters in der Industrie kaum zu schaffen ist.

Momentan läuft es sogar andersherum: Ein gewisser Joaquín Almunia, EU-Wettbewerbskommissar, versucht, den Deutschen seine Ideen von Energiepolitik in die Koalitionsverhandlungen hineinzudiktieren. Das Druckmittel ist ein drohendes Beihilfeverfahren mit möglichen Milliardenstrafen für die deutsche Industrie, weil die Förderung erneuerbarer Energien in Deutschland gegen EU-Regeln verstoßen soll. Nächste Woche legt der Kommissar einen Vorschlag für neue Leitlinien für Staatsbeihilfen vor, die künftig regeln sollen, wie grüne Energie gefördert werden darf. Daran wird sich Deutschland halten müssen.

Die nächste Bundesregierung muss den Spieß umdrehen und die EU so gnadenlos zu einer Energiewende bringen, wie sie Südeuropa Sparpläne diktiert. Europaweit vernetzte erneuerbare Energien und Speicher wären billiger und schneller als jeder nationale Alleingang. Aber vermutlich wird daraus nichts: Die Gegenwehr etwa aus dem Kohleland Polen und dem Atomstaat Frankreich wäre enorm. Außerdem: Die EU ist ein wunderbarer Sündenbock für die Große Koalition. Wenn allzu viel Lobbyismus für Industrieinteressen zu Hause eine schlechte Presse bringen, kann man die Sache auch lautlos über Brüssel erledigen.

INGO ARZT