Kein Stück reales Leben

Das wichtigste Theaterfestival in NRW hat begonnen. Die „Stücke“ in Mülheim sind heute „everybody‘ s darling“ – immerhin geht es um den begehrten Dramatikerpreis und 15.000 Euro

VON PETER ORTMANN

Theater heute: Das Ohr aus „Blue Velvet“ ist ein kleiner Zeh. Auf dem Stuhl von Norman Bates räkeln sich frech die Frauen. Norman heißt beim österreichischen Jungautor Händl Klaus Joachim Hufschmied (Jochen Noch). Auch Hufschmieds Mutter ist tot. Nun kann er machen was er will: Er reißt die Pension ab, nachdem Corinna dort ausgezogen ist. Von ihr behält er boshaft ein Souvenir – den Zeh.

Sebastian Nübling urinszenierte Händls neuestes Stück „Dunkel lockende Welt“ an den Münchener Kammerspielen. Am Wochenende eröffnete es die Mülheimer „Stücke 2006“, heute der einzige deutschsprachige Wettbewerb für Theaterstücke-Schreiber. Sieben nominierte Uraufführungen, darunter Arbeiten von Elfriede Jelinek, Moritz Rinke oder René Pollesch, kämpfen um den Mülheimer Dramatikerpreis, der mit 15.000 Euro dotiert ist. Wie immer stellen sich nach jeder Aufführung die Macher dem Publikum, das mit votieren darf. „Das Festival ist keine Idee der Landesregierung, das sollte es aber“, sagte Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU) bei der Eröffnung. Es sei einst von der Kommune entwickelt worden und würde heute gern vom Land unterstützt. Grosse-Brockhoff forderte mehr kulturelle Bildung für Jugendliche, prangerte den Fall des Berliner Dramatikers Lutz Hübner in Hagen an, wo das Landgericht sein Stück über einen Mädchenmord in der Stadt mit der Begründung verboten hatte, postmortale Persönlichkeitsrechte stünden über der Freiheit der Kunst. „Das Theater braucht das Reale der Lebenswelten“, sagte der Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei.

Das wurde an diesem Abend allerdings nicht geboten: Die Vierecksgeschichte zwischen Tochter und Mutter, einem Vermieter und dem verschwundenen Ex, hat nichts mit Realität zu tun. Autor Händl Klaus hat nach „Wilde – Der Mann mit den traurigen Augen“, der mit dem selben Regisseur auch in Mülheim eingeladen war, sicher viel Discovery Chanel geschaut. So finden sich in seinem dritten Stück nicht nur finnische Begräbnis-Rituale, auch afrikanische Zahnprobleme und final einen minutenlangen Terror-Monolog von Mama über die Fotosynthese der Pflanzen, schließlich war Dr. Mechthild Schneider (Gundi Ellert) in der Grundlagenforschung. Die drei noch lebenden Personen penetrieren den Zuschauer mit einer Überdosis an witziger Süffisanz, sie vernebeln dafür eine Handlung, die keine sein will. Es geht um Abhängigkeit, Mutterliebe und das Unbekannte unter diversen Oberflächen – physischen und psychischen. Eine böse Komödie, in der nichts wahr, nichts wirklich und schon gar nichts schlüssig ist. Ob der kleine Zeh wirklich Corinnas Exfreund Marcel gehört, ob sie ihn getötet hat, warum sie die Badewanne in Joachims Herberge ausgetauscht hat, ob er vielleicht ihr Vater ist – schlüssig ist nur, dass es nicht wichtig ist.

Dazu inszeniert Nübling in einem Nichtraum. Eine riesige, halbrunde und megabewegliche Din-Norm-Holzfassade wird zum Salon mit Türen oder zu Zimmern mit Teppich, unter den man sich kehrt und unter dem man Bücher von Tania Blixen findet. Die Schauspieler sind süffisant komisch, dazu Slapstick bei Hammond-Orgel-Bossa Nova. Sinatra in Mamas Stuhl. Gesungen von der Dr. Corinna Schneider (Wiebke Puls), die eigentlich nach Peru soll, aber nicht will. Leben ist eben gemein.

Infos: www.stuecke.de