Konsequent Camp

Erinnerungen an zickende Dragqueens und das besinnungslose Glück von Disco: Auf zwei aktuellen CDs wird der Weg homosexueller Popkultur aus den Hinterzimmern in die Hitparaden dokumentiert

von HARALD FRICKE

Wenn alles nach Plan läuft, dann hält das Mahnmal zur Homosexuellenverfolgung, das nächstes Jahr im Berliner Tiergarten gebaut werden soll, eine hübsche Überraschung bereit. Das Künstlerpaar Michael Elmgreen und Ingar Dragset sieht eine sockelartige Betonstele mit Guckloch vor, durch das ein Filmloop zu sehen sein wird, in dem sich zwei Männern unentwegt küssen. Das ist im Tiergarten, der bekanntermaßen für schwule Gelegenheitstreffs dient, ein hübscher kleiner Stachel, der die Gedenkkultur mit der Gegenwart koppelt. Man darf zumindest gespannt sein, wie lange die wartungsbedürftige Medieninstallation unbeschadet bleibt, denn in der Regel gehen öffentlich zur Schau gestellte Filmprojektionen recht schnell zu Bruch. Insofern wird man die Toleranz gegenüber Schwulen – und Lesben? – auch an der Haltbarkeit des Objekts, das so eindringlich Begehren und Erinnern verbindet, messen können.

Keine Frage, 2006 ist das Jahr, in dem schwule, lesbische und queere Lebensweisen wie selten zuvor auf ein kulturelles Fundament gestellt werden. Für den Oscar waren gleich drei Filme nominiert, die Homosexualität und Transgenderidentitäten zum Thema haben; im August wird im Kölner Museum Ludwig mit der Ausstellung „Das achte Feld“ ein Überblick über schwule und lesbische Kunst der letzten 50 Jahre zu sehen sein. Rechnet man das Berliner Mahnmal hinzu, bleibt nur ein Resümee: So viel Sichtbarkeit war nie. Damit vollzieht sich im großen gesellschaftlichen Maßstab, was über lange Zeit als Anliegen von Randgruppen galt – willkommen im Mainstream der Minderheiten. Oder um es mit dem Untertitel der „Queer Noises“-CD zu sagen, die gerade beim Trikont-Label erschienen ist: „From the Closet to the Charts“, aus dem Hinterzimmer in die Hitparaden.

Tatsächlich hat der britische Musikjournalist Jon Savage mit dieser von ihm zusammengestellten Kompilation, auf der zwei Dutzend Songs aus den Jahren 1961 bis 1978 vertreten sind, ein gewaltiges Stück Geschichtsarbeit vorgelegt. Denn homosexuelle Popkultur, das sind bislang Highlights aus Funk und Fernsehen gewesen, von den Schmachtballaden eines Cole Porter über die New-Wave-Gassenhauer à la Frankie Goes to Hollywood, Culture Club und Erasure bis zur lässigen Country-Croonerin k. d. lang oder Grand-Prix-Eintagsfliegen wie Dana International. Für solche schillernden Top-Ten-Acts interessiert sich Savage, der 1991 mit „England's Dreaming“ eine Biografie des Punk im Zeichen der Sex Pistols geschrieben hat, allerdings wenig. Ihm geht es nicht um den Triumph an der Kasse, sondern um die allmähliche Emanzipation einer gegenkulturellen Bewegung, wie sie sich im Spiegel der Musik vollzogen hat.

Am Anfang steht bei Savage denn auch eine burleske Kabarettnummer, mit der 1960 der Travestiekünstler Jose Sarris im Black Beat Club San Francisco auftrat. Wunderbar spitz zieht der Entertainer über „leather-jacketed girls“ im Publikum her, die doch nur mit ihrer Vespa durch die Gegend rollern, und benennt damit fast nebenbei die Doppeldeutigkeit schwuler Selbstdarstellung: machohafte Erscheinung und feminine Ausstrahlung in einem. Dazu passt, dass Sarris als Dragqueen die Widersprüche zwischen Biologie und Eigensinn bewusst zur Schau stellte, indem er zum weißen Hochzeitskleid gern Dreitagestoppeln trug. Diese, wie Savage es nennt, „Dialektik zwischen Tunte und Kerl“ zieht sich durch alle von ihm ausgewählten Aufnahmen: Mal wird ein stampfender Rock 'n' Roll durch zickige „Ooh, get him!“-Rufe persifliert, mal wird mit „Florence of Arabia“ das Filmepos „Lawrence of Arabia“ zur Beachparty umgewidmet; und selbst ein gestandener Westerner wie Peter Grudzien brummelt mit tiefer Stimme auf dem 1974 veröffentlichten „White Trash Hillbilly Trick“ etwas vom schwulen Cowboy in seinen Bart.

Für all diese Parodien und Übertreibungen angestammt heterosexueller Lebensart gibt es ein Zauberwort: Camp. Bereits in den frühen sechziger Jahren wurde in Hollywood ein gleichnamiges Plattenlabel gegründet, das Savage nun wiederentdeckt hat. Insgesamt brachte Camp Records zehn Singles heraus: entspannt vor sich hin jazzende Loungemusik und Vaudevillesongs, mit so vielversprechenden Titeln wie „Homer the Happy Homo“ oder „Weekend of a Hairdresser“. Auf den Covern waren männliche Pin-ups aus Athletic Model-Magazinen zu sehen, manche trugen Pumps und Federschmuck oder knappe Höschen zu Bikerstiefeln. Besonders markant war die Gestaltung für das Album „The Queen Is in the Closet“, auf dem ein plüschig im Cartoonstil gezeichneter Männerarm zu sehen ist, der am kleinen, leicht abgespreizten Finger der linken Hand einen dicken Klunker trägt und mit einem Taschentuch wedelt – ein Glanzstück an Treuherzigkeit, Understatement und zugleich ganz hoher Camp.

Wenig später war es Susan Sontag, die die Lust an Fake-Inszenierungen und So-tun-als-ob-Authentizität in ihrem Text „On Camp“ (1964) aufgegriffen hat. Was bis dahin im schwulen Underground als Sprachspiel voller Beleidigungen funktionierte und auch sonst als rhetorisches Gegengift zu den Anfeindungen der Mehrheitsgesellschaft gedacht war, wurde von der rührigen Essayistin generell zur Erlebnisweise zeitgenössischer Kultur erklärt. Eine Nobilitierung mit Folgen, wird inzwischen doch der selbstdistanzierte Blick mit einer ironischen Feier des schlechten Geschmacks gleichgesetzt und hierzulande von Knallchargen wie dem urmelnden Dirk Bach oder Stefan Raab massenwirksam unters Volk gebracht. Dabei hatte Sontag seinerzeit noch Wert darauf gelegt, dass sich Camp sehr wohl in einen positiven, nämlich naiven Gebrauch und in eine vorsätzliche, lediglich auf den Effekt ausgerichtete Variante unterscheiden lässt. Diese Differenz ist wichtig, an ihr zeigt sich wahre Extravaganz im Gegensatz zu einer bloß dekorativ ummantelten Leidenschaftslosigkeit.

Auch Savage hat mit seinem Sampler auf diese feine Trennungslinie geachtet. Die Rolling Stones, die für Fotos in Frauenkleidern posierten, sind nicht dabei – wohl aber die Kinks, in deren Song „See My Friend“ 1965 die Geschichte von einem Mod erzählt wird, der schwul wird, weil die Mädchen ihn andauernd verspotten, obwohl er doch den schicken Look der Carnaby Street trägt. Das große Meisterwerk der CD ist jedoch Rod McKuens „Eros“: Von einem Orchester umtupft, spricht der amerikanische Komponist einen Text über „eine Frau oder einen besonderen Freund“, bei dem es sich ziemlich unverblümt um eine Beschreibung von Cruising handelt – „I have to walk at night and be with many strangers“, wie es schon im ersten Satz heißt.

Es ist kaum vorstellbar, dass „Eros“ 1961 auf Platte erschien, immerhin acht Jahre vor der Stonewall-Revolte. Nachdem sich am 27. Juni 1969 dann Schwule und Lesben, angeführt von der als Dragking gekleideten Stormé DeLarvie, vor dem Stonewall Inn eine Straßenschlacht mit der New Yorker Polizei geliefert hatten, wurde gay pride auch zur musikalischen Losung. Dafür hält Savage alle möglichen Stile parat: Michael Cohen machte Folk; Jobriath lieferte Glamrock aus dem Jahre 1973, mit dem der ehemalige Musicalsänger ein amerikanischer David Bowie hätte werden können; beim Soulriesen Tamla Motown besangen The Miracles im Quietschfalsett die Freuden der Homosexualität; und selbst unter Punks gehörte Schwulsein zur korrekten Antihaltung, wie man dem gitarrenschnarrenden „Nobody Loves You When You're Old And Gay“ der Gruppe Dead Fingers Talk entnehmen kann.

Der Erfolg von Sylvester, dessen Dancefloorgospel „You Make Me Feel (Mighty Real)“ bei Savage am Ende der CD steht, war also gut vorbereitet. Die äußeren Koordinaten stimmten: Auf dem Höhepunkt von Disco schienen um 1978 schwuler Lifestyle und Clubkultur bruchlos ineinander überzugehen. Ein unentwegter Exzess aus Tanzen und Ficken, bei dem Promiskuität ein Symbol der neuen Freiheit war – auch in Abgrenzung zum Muff der Heteros. Dazu gehörte das uniforme Erscheinungsbild der „Clones“ mit T-Shirt, Jeans, Kurzhaarschnitt und Schnauzer ebenso wie der Fitnesswahn, mit dem Schwule unter der Woche ihre Körper auf Vordermann brachten, um sie am Wochenende mit Drogen, wenig Schlaf und sehr viel Geschlechtsverkehr zu ruinieren. Michel Foucault hat die Clubszene, ihre Darkrooms und den nächtelangen Gruppensex als „Labor des sexuellen Experiments“ bezeichnet; nach dem Ausbruch der Aidsepidemie hat er ähnlich umstandslos von „Selbstmordorgien“ gesprochen.

Trotzdem, bei Disco denkt man weiter an eine barock perlende Üppigkeit, an hysterische Momente, in denen der bis zur Besinnungslosigkeit pochende Beat alles Glück auf Erden umfassen konnte. Das ist auch auf der Doppel-CD „A Tom Moulton Mix“ zu hören, die das Londoner Label Soul Jazz Records jetzt veröffentlicht hat. Eddie Kendricks elf Minuten lang herausgezögerte „Keep On Truckin“-Ekstase, das „Free Man“ der South Shore Comission oder die überkandidelt mit Phillysoundstreichern schnurrende Hymne „Love Is the Message“ von MFSB – Tom Moulton hatte sie alle in seinen Fingern. Heute noch gilt der Mann als Hohepriester am Mischpult. 1972 hat er sein erstes Mixtape für die legendären Sunday tea parties produziert, die damals an den Stränden des 100 Kilometer von New York entfernten Fire Island von der schwulen weißen Upperclass gefeiert wurden.

Doch die Begeisterung hielt sich zunächst in Grenzen. Zu ungewöhnlich waren die Montagen, für die Moulton kurze Instrumentalpassagen wieder und wieder kopiert und am Tonbandgerät dermaßen raffiniert zusammengeklebt hatte, dass ein Song plötzlich doppelt so lang als das Original lief. Ihre Wirkung erzielten diese aus lauter Tempoparts verfugten Tracks denn auch oft nur unter Kokain oder im Poppersschnüffelrausch – dann aber richtig, wie man an der Karriere von Moulton ablesen kann. Binnen weniger Monate stand ihm das Studio A beim New Yorker Sigma-Sound-Label zur Verfügung, wo er vier Nächte pro Woche am Siegeszug von Disco mitbastelte.

Manchmal erkannten die Musiker ihre Stücke nach der Überarbeitung kaum wieder. Gloria Gaynor musste zum Schluss einer Session enttäuscht feststellen, dass ihr Gesang beim Endprodukt fast völlig fehlte. Umgekehrt wurden manche Künstler erst durch den Eingriff zu Stars: Grace Jones dürfte ihren Aufstieg 1977 vom Model zur Popdiva nicht unwesentlich der Maßschneiderei von Moulton verdanken, der „La vie en rose“ mit spanischen Gitarren und zarten Glöckchen in Falten legte und so das elegante Chanson ihrer bescheidenen Stimme anpasste. Es war aber auch ein Triumph der Schwulenkultur, die mit dem Song endgültig vom Hinterzimmer aus auf den Laufstegen der Welt angekommen war.

Jon Savage: „Queer Noises 1961–1978. From the Closet to the Charts“ (Trikont).„A Tom Moulton Mix“ (Universal Soul Jazz)