„Ich bin ein bisschen enttäuscht“

Der Rahmenplan für Berliner Ethikunterricht klammert wichtige Themen aus, sagt Integrationsbeauftragter Piening

taz: Herr Piening, Sie sagen, der Ethikunterricht sei die richtige Antwort auf viele schulische Probleme. Auf welche denn?

Günter Piening: Viele schulische Probleme hängen zusammen mit der Vielfalt der Werte- und Sinngebungssysteme und den Konflikten, die daraus entstehen. In der Schule muss mit dieser Vielfalt umgegangen werden. Der Ethikunterricht bietet die Möglichkeit, eine Debattenkultur zu entwickeln und sich trotz unterschiedlicher Sichtweisen zu verständigen. Es gibt kein Fach, nach dem gerade seitens der Kiez-Schulen so stark gerufen wurde. Die Schulen brauchen einen Ort jenseits des Religionsunterrichts, wo Wertefragen gemeinsam thematisiert werden.

Das hört sich sehr schön und sehr abstrakt an. Wie soll das konkret an den in Verruf geratenen Berliner Hauptschulen aussehen?

Der erste Rahmenplanentwurf war in der Tat Philosophie-lastig und sehr an der europäischen Philosophiegeschichte ausgerichtet. Es wurden Standards vorgegeben, die mit der Realität gerade der Hauptschulen nur schwer in Einklang zu bringen sind. Deswegen habe ich gefordert, in den Rahmenplan das Thema Interkulturalität und Menschenrechte stärker aufzunehmen. Ich bin ein bisschen enttäuscht vom nun vorgestellten endgültigen Rahmenplan. Interkulturelle Kompetenz ist ein klein wenig wichtiger geworden, ich hätte mir aber gewünscht, dass auch Fragen der Menschenrechte stärker als Leitmotiv erkennbar wären.

Wenn Sie bei Hauptschülern von Interkulturalität der Schule sprechen, dann fragen diese, was ist das?

Die Hauptschüler wissen aber, was Freundschaft und Glück ist, was Freiheit ist, sie wissen sicherlich auch, was Gewalt ist, was Toleranz ist, was Schuld und Recht ist. Das sind die Themenfelder des Berliner Ethikunterrichts. Die Frage ist: Wie gehe ich an diese Themenfelder heran? Mir schwebt ein Unterricht vor, der sehr stark an den Interessen der Schüler ansetzt, der projektorientiert ist, der die Findungsprozesse der Schüler in den Vordergrund stellt. Ob die Spielräume, die der Rahmenplan bietet, hierfür genutzt werden, wird erst die Praxis zeigen. Derzeit werden Handreichungen erarbeitet und die Lehrerinnen und Lehrer geschult und weitergebildet.

Vertreter der Kirche, aber auch muslimischer Verbände kritisieren, dass die Ausbildung der Ethiklehrer sehr kurz ist und dadurch nicht wirklich neue Kompetenz erlernt werden kann. Vor allem aber, dass Religionskunde nicht kompetent unterrichtet werden kann.

Die Forderung nach mehr Qualifizierung für Lehrer ist immer richtig, allerdings weniger in diesem Zusammenhang. Der Ethikunterricht ist kein Ersatz für den Religionsunterricht, das ist von den Religionsgemeinschaften teilweise falsch dargestellt worden. In Berlin gibt es die Verfassungsgarantie, dass Religionsgemeinschaften in eigener Verantwortung Unterricht geben. Inzwischen bieten sieben Religionsgemeinschaften durch das Land finanzierten Unterricht an. Wir sind wahrscheinlich das einzige Bundesland, in dem es an einigen Schulen auch buddhistischen Religionsunterricht gibt. Dieser Religionsunterricht, für den Berlin rund 50 Millionen Euro an die Religionsgemeinschaften zahlt, wird auch weiter finanziert. Aber es tut einer Gesellschaft nicht gut, wenn die Kinder separiert werden, wenn es um Werte geht. Darum gibt es jetzt zusätzlich ein verbindliches Fach, in dem ethische Grundlagen und Werteorientierung gemeinsam diskutiert werden.

Jeder Mensch, unabhängig seiner Herkunft, seines Geschlechts, hat Grundrechte, die zu seinem Menschsein gehören. Sie empfehlen eine starke Orientierung des Ethikunterrichts am Themenfeld Menschenrechte. Was heißt das bei Zwangsheirat und Ehrenmord?

Die Würde des Menschen ist unantastbar – in diesem schlichten Satz findet sich der Kompass für unser Handeln. Das umfasst sowohl die Akzeptanz anderer kultureller Traditionen wie auch die Benennung der Grundwerte, die nicht zur Disposition stehen. In den Methoden der Menschenrechtsbildung finden sich sehr wichtige Beiträge für einen Unterricht, der das gemeinsame Wertefundament stärkt, ohne eurozentristisch zu werden.

Gehört dazu auch, dass ein Mädchen am Schwimmunterricht teilnehmen darf?

Ja. Gerade Konflikte zwischen kulturellen Prägungen, religiösen Anforderungen und Freiheitsrechten können in der Menschenrechtsbildung sehr gut bearbeitet werden.

Interkulturalität und interkulturelle Kompetenz wurden als Leitbild der Berliner Schule fixiert. Was heißt das?

Für mich ist die Schlussfolgerung aus Pisa nicht, dass wir zu wenig Sprachunterricht haben, sondern dass die Schule mit dieser Vielfalt, mit den Stärken und Schwächen eines jeden Schülers umgehen muss. Insofern ist die Festschreibung von interkultureller Kompetenz als Lernziel von Schule, wie sie mit dem Berliner Schulgesetz vorgenommen wurde, die richtige Antwort auf Pisa.

Problem erkannt – aber zur Umsetzung braucht man Geld. Wie sieht es damit aus?

Selbstverständlich braucht das Bildungssystem mehr Geld. Aber ich warne davor zu glauben, nur mit mehr Lehrerinnen und Lehrern seien die Probleme gelöst. Es reicht eben nicht, die Klassen zu verkleinern, wir brauchen auch einen anderen Unterricht. Schule muss neben dem klassischen Lernen auch das soziale Lernen stärker fördern. Wir brauchen mehr Elternarbeit. Die Schule muss sich öffnen für die sozialen Institutionen im Umfeld, muss besser kooperieren mit der Jugendhilfe und auch mit der Polizei. Wir brauchen eine Lehrerausbildung, die die Lehrer darauf vorbereitet, was sie an der Schule vorfinden. Es ist doch erschreckend zu sehen, wie unvorbereitet für den Alltag in den Kiezschulen Lehrerinnen und Lehrer aus der Hochschule kommen. Und wir brauchen Lehrer mit Migrationshintergrund.

Warum gibt es so wenige LehrerInnen mit Migrationshintergrund?

Vor langer, langer Zeit, als noch in größerem Umfang eingestellt wurde, gab es wenig qualifizierte junge Leute mit Migrationshintergrund. Heute gibt es sie, aber sie werden kaum eingestellt. Aber bald tritt eine Lehrergeneration ab, Lehrerinnen und Lehrer werden inzwischen wieder gesucht, und diese Chance gilt es zu nutzen, den Anteil derer mit Migrationshintergrund zu deutlich zu erhöhen. Daneben müssen wir die Migrantenorganisationen stärker in die Schulen einbinden. In Berlin unterstützen wir diese Entwicklung etwa durch eine Neuausrichtung unserer Förderprogramme.

Gibt es mehr Kinder der zweiten und dritten Generation in Studiengängen für Lehrer?

Ja. Erziehungs- und Lehrerberufe sind gerade für Frauen mit Migrationshintergrund immer noch ein wichtiger Aufstiegsort. Aber auch in Berufen, in denen man besser verdient, wächst die Nachfrage nach qualifizierten Menschen mit Migrationshintergrund enorm. Das sind Brückenbauer in neue Märkte, sie bringen neue Idee und haben ein sehr hohes Aktivitätspotenzial. Und wir stehen im globalen Wettbewerb. Wir verlieren beispielsweise viele kluge Köpfe an die Türkei. Dort verdient man in einigen Berufen das Doppelte! Wir müssen also aktiv werben – gerade auch für den Schuldienst.

INTERVIEW: EDITH KRESTA