die taz vor 16 jahren : Thierse zur Kritik an der Ost-SPD
Es ist in dieser Zeitung üblich, auf die SPD einzuschlagen. Die Kritik an der SPD ist auch billig zu haben: Man muß nur die Maßstäbe hochschrauben und vor allem weit genug von der Realität entfernen, um hämisch oder empört feststellen zu können, wie beschämend mies das Erreichte ist. Die Bewertung des Staatsvertrags ist ein solcher Fall.
Der Vorwurf, die SPD hätte nicht für parlamentarische Beteiligung gesorgt, unterstellt, daß Verträge zwischen Staaten von Parlamenten ausgehandelt würden. Das tun aber überall in der Welt Regierungen, und zwar selten unter dem Scheinwerferlicht von Fernsehkameras!
Der Vorwurf, die SPD hätte sich nicht hinreichend gegen den Bonner Termindruck gewehrt, übersieht, daß der Termin des 2. Juli ein Produkt des Volkskammerwahlkampfes (übrigens zuerst von Ibrahim Böhme in die öffentliche Debatte gebracht!) und unter dem Eindruck und Druck der Fluchtwelle aus der DDR entstanden ist!
Der Vorwurf, der Staatsvertrag sei ein Dokument der Unterwerfung, will nicht wahrhaben, daß die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung die schnelle deutsche Einheit will und die D-Mark besonders schnell! Die Währungsunion galt und gilt den meisten als der sicherste Weg, der immer offenbarer werdenden wirtschaftlichen Misere in der DDR zu entfliehen. Die BRD nun war bemüht, die Grundstrukturen dafür zu schaffen, daß ihre Währung auf fruchtbaren Boden fällt. Die SPD war bemüht, dafür zu sorgen, daß bei der Wirtschafts- und Währungsunion die sozialen Aspekte berücksichtigt werden.
Wolfgang Thierse, taz, 17. 5. 1990