Kein Essen ohne Geschichten

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Wo nicht erzählt wird, am Abendbrottisch, am Bettrand – da gibt es Lernstoff, aber keine Tradition

Den Grundstein meiner Bildung hat Fräulein Francke gelegt. Wahrscheinlich war sie damals Mitte dreißig, uns kam sie uralt vor. Fräulein Francke versammelte jeden Tag, um die Mittagsstunde, am Sandkasten die Kinder, die nicht nach Hause wollten. Mal las sie Märchen vor, mal erzählte sie Highlights aus der regionalen Mythologie, da ging es dann um Elfen und Riesen und irgendwelche Vorkommnisse mit Bergleuten in den Goslarer Silbergruben.

Zwei Dutzend von uns Zwergen saßen auf dem Holzrand des Sandkastens und hörten ganz still zu, und wenn wir zu lange gesessen hatten und unruhig wurden, dann stand Fräulein Francke auf, klappte das Buch zusammen, zog ihre Schürze glatt und dirigierte ein Kreisspiel oder studierte ein neues Lied mit uns. Fräulein Francke war, so sehe ich es heute, ein kommunal finanziertes, mitteleuropäisches Äquivalent zur mythischen Gestalt des Geschichtenerzählers, wie es sie bis kurz vorm Fernsehen im Orient noch gab – und überdies war sie Choreografin, Chorleiterin und Dramaturgin unserer Spiele.

Menschen sind Geschichtenfresser, von der ersten Feuerstätte bis zur Prime-Time-Soap. Wo nicht erzählt wird, am Abendbrottisch, am Bettrand, an der Straßenecke, oder eben im Sandkasten – da gibt es Lernstoff, aber keine Tradition. Und, Menschen sind spielende Wesen, vom Steinzeitritual über Backgammon, griechische Komödien, Bauerntänze, Barock-Opern und Kaschemmenmusik bis zur Gegenwart von Fußball, Karaoke, virtuellen Welten, Bayreuth und Rimini-Protokoll. Alles, was wir Kultur nennen, speist sich aus diesen Ur-Antrieben: Erzählen und Spielen – mit dem eigenen Körper, dem eigenen Geist, und mit den anderen. Näheres dazu bei Friedrich Schiller und Johan Huizinga.

Wo beides verkümmert, da schrumpfen die Menschen und da leidet die „Breitenkultur“, in der alle „höhere“ gründet. Das Bedürfnis nach Geschichten und Spielen, nach Ritualen und Aktionen ist unausrottbar, solange es Menschen gibt. Aber die Formen, in denen es geschieht, sind durch die Gestalt der Gesamtgesellschaft bedingt – und das ist seit geraumer Zeit der Markt. Der zielt auf Massenprodukte und Höchstleistungen; die einen kosten Geld, die andern Zeit. Das schließt viele Menschen aus, und es fördert tendenziell den passiven Genuss von Perfektion (welcher Art auch immer) und entmutigt eigene Aktivität. Das Jammern darüber hat zu kulturkritischen Essays in Tonnenschwere geführt, sekundiert wird ihm heute durch die Klagen über das Fehlen einer „Leitkultur“ oder darüber, dass die Kinder nichts mehr wissen, ständig Ritalin brauchen oder Markenkram und Süßstoff aller Art.

Zeit also, über das „Modell Francke“ noch einmal nachzudenken. Die Kulturträgerin mit der weißen Schürze fiel mir wieder ein, als ich dieser Tage las, der künftigen „Europäischen Kulturhauptstadt“ Essen mangele es an Geld. 48 Millionen Euro sind zugesagt, aber 30 fehlen noch für ein Programm, das unter anderem vorsieht: ein „licht- und textaktives Objekt an der A 40“, eine Art unterirdisches Zechen-Disneyland, ein mobiles, von Helikoptern durch das Ruhrgebiet gefahrenes Stadtparlament und vierzig schwimmende „Kulturinseln“.

Wie wäre es, fragte ich mich, wenn man, statt dieser Mischung aus Industrienostalgie und Spektakel für 48 Millionen zweitausend männliche und weibliche Franckes anstellte, damit sie ein Jahr lang in Essen, ja in der gesamten großen Ruhrstadt, in den Parks und den Bahnhöfen, an den Kiosken und in den Einkaufsmeilen Geschichten vorlesen? Jeden Nachmittag und jeden Abend den Kindern und den Erwachsenen, den Touristen und den Vergesslichen die regionalen Mythen und die Stadthistorien erzählen: die von Glanz und Elend des Ruhrgebietes, die von den Migranten, die von Krupp und die von Engels.

Was würde passieren, wenn zweitausend Kultur-Aktivisten ein Jahr lang an zehntausend Straßenecken die Odyssee oder die Geschichte von Franz Biberkopf, die Erzählungen von Franz Kafka oder Peter Bichsel oder Ralf Rothmann vorlesen würden? Oder, da es ja um die „Europäische Kulturstadt“ geht, die sizilianischen Erzählungen von Pirandello oder die Gegenwartsromane von Ian McEwan, Per Petterson, José Saramago oder Emine Sevgi Özdamar? 2.000 Animateure, und wenn die Hartz-Verwaltung mitspielt, noch mal tausend dazu, und noch mal tausend aus allen Ländern Europas, bezahlt von Brüssel? Müssten da nicht neue Nachbarschaften entstehen oder Gespräche über das gute Leben beginnen?

Und weiter, denn es geht ja nicht nur um Literatur: Kann man sich ein Kulturjahr vorstellen, das ganz ohne Kulissen und Lichtbögen, ohne Eintrittskarten und „Kreative“ auskommt – und stattdessen den Großversuch unternimmt, aus den Rentnern, die jeden Abend am Büdchen stehen, einen Chor zu formen; auf jedem Schulhof jeden Freitagabend einen Tanz-Workshop fürs Viertel zu veranstalten; oder in Dortmund-Scharnhorst und einigen anderen Ruhrdörfern 40 Leute zusammenzubringen, die immer schon mal Theater spielen wollten?

Das gibt es ja alles schon, werden die aufklärenden Helden (ich meine das ganz unironisch) der Kulturämter und Geschichtswerkstätten, der Kiez-Entertainer und der Laienchorleiter jetzt rufen – und sie haben Recht. Sicher, es ist gut, wenn Menschen aktiv werden, aber Kunst ist auch etwas, das Schulung voraussetzt, des Geschmacks und des Ausdrucks, und Basteln ist nur der Anfang von Kultur – sagen die Theaterintendanten und die Museumsleute, die seit Jahrzehnten „Kultur“ unter die Leute bringen. Und sie haben auch Recht.

Wie wäre es also, wenn all diese Institutionen, nur ein Jahr lang, sagen wir: auf die Hälfte ihrer feuilletonrelevanten Premieren und avancierten Vernissagen verzichten würden und ihre Choreografen und Dramaturgen, ihr Fachwissen und ihre Scheinwerfer, ihre Geiger und ihre Schauspieler in den Dienst eines solchen Aufbruchs stellten? Müsste da nicht ein wenig „kulturelle Nachhaltigkeit“ entstehen in den Vorstädten der kulturellen „Leuchttürme“, von denen wir so reichlich haben, wenn jene, die es wirklich können, ein Jahr lang den Dualismus von Höchstleistungen und Pädagogik außer Kraft setzten?

Fräulein Francke war ein kommunal bezahltes Äquivalent zur mythischen Gestalt des Geschichtenerzählers

Eine Hauptstadt der Kultur wäre das, in der ein Jahr lang Fäden sich spinnen und innere Räume besiedelt würden – eine lustvolle und massenhafte Initiation in die neuen Lieder und die alten Geschichten, die unerhört nahen und die fremden Schicksale, die sich zwischen Duisburg und Dortmund, Riga und Lissabon, Dichtung und Wahrheit, Vergangenheit und Gegenwart mischen. Und wenn jedem Erzähler, jedem Animateur nur zwanzig folgten, dann hätten am Ende ein paar Millionen Menschen einen Schatz geschenkt bekommen, den sie nicht wieder verlieren könnten, weil sie an seiner Bergung selbst beteiligt waren.

Das wäre doch ein unerhörtes Volksfest. Eine Investition in Menschen und in Zeit statt in Event-Agenturen und Hotelbetten. Eine Probe aufs Exempel, dass Europa nicht nur Kultur hat, sondern Kultur ist. Völlig undenkbar, so etwas. Ein unerhörtes Wagnis für Kulturpolitiker. Geradezu utopisch. Aber Fräulein Francke würde das freuen. Wo immer sie jetzt ist.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als freier Publizist in Berlin.