Eine kleine Wolkenkunde

TANZTHEATER Samir Akikas neues Stück ist eine Serie flüchtiger Körperbilder – die zerstieben, sobald aus Gesten und Bewegungen Botschaften oder ein Sinn lesbar zu werden drohen. Absolut sehenswert

Es gibt Andeutungen, Bilder, die zum Deuten verführen und manches ist auf bizarre Weise zu explizit, ohne jede Nacktheit, etwa wenn Tänzer Gabrio Gabrielli sein Arschloch mit beiden Händen auf und zu schiebt, auf und zu, wie den Mund einer Handpuppe und synchron zu eingespielten Wortfetzen. Und manchmal knallt der Abend seinen BesucherInnen einfach wie eine Wand vor den Kopf, eine Wand ohne Zugang: Etwa, wenn Andy Zondag Titel berühmter Choreografien verliest, ohne dass ein Kriterium ihrer Auswahl erkennbar wäre. Allein schon dieser Titel!

Denn selbst, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass The Pin ein Golfer-Fachausdruck für den Stock ist, der die Fahne hält um das Zielloch zu markieren, hätte man wohl nicht kapiert, warum Samir Akikas neues Stück, das am Samstag im kleinen Haus des Bremer Theaters Premiere hatte, so heißt, und nicht etwa Medallist Podium, oder Die Blaue Blume, oder auch Amerika. Aber immerhin wird das Bild eines Greens mit schnuckeliger Low-Tech auf eine schräg-hängende Leinwand geworfen: Eine Art Tageslichtprojektor beamt darauf Landschaftsmodelle, die auf einem Schreibtisch am rechten Bühnenrand aufgebaut und mit einer Leselampe ausgeleuchtete sind, sodass Bilder einer schön unwirklichen, einer irgendwie verrutschten Wirklichkeit entstehen. Später wird’s dort auch einen Formel- 1-Unfall und qualmige Pyro-Effekte geben. Herrlich!

Wie ein Emblem des Abends kämpft gleich zu Beginn eine junge Frau mit einer Schlange aus weißen Luftballonen – und zieht sie schließlich zu einer weißen Wolke zusammen, in der sie sich und die anderen Tänzer wiegen kann, während von oben, auf einem Podest in luftiger Höhe, wo ein Klavier steht, ab und an Schwaden von Bühnennebel herabsinken.

Tatsächlich betreibt Akikas mit The Pin hier eine Art Wolkenkunde. Denn so wie deren Beinahe-Formen, die in dem Moment, in dem sie eine klare Identität anzunehmen scheinen, schon wieder zerstieben, so ist es mit den Bildern, die von der Kompagnie in den Raum getanzt oder geturnt werden: Ein Mann, der sich, auf der Spitze eines Wagenhebers balancierend, in die Höhe pumpt, Pin Chieh Chen, die eine Bewegungsphrase auf ihre Ausdrucks- und Bedeutungsmöglichkeiten hin abklopft, das ganze TänzerInnen-Team, das auf Kommando einen Kampf mit jemandem im Publikum austrägt, einer, der versucht, durch eine Schlinge zu springen, die er sich selbst vorhält – wie die Möhre dem Esel: Immer wenn sie zu deutlich, immer wenn eine Handlung zu greifbar wird – dann lässt Akika es los, sodass The Pin den unerhört luftigen Eindruck eines Traums hinterlässt, der schön ist und schrecklich, belanglos und bedeutsam zugleich. Und absolut sehenswert.BENNO SCHIRRMEISTER