Geiselnehmer von Beslan schuldig gesprochen

Staatsanwalt fordert Todesstrafe. Hinterbliebene kritisieren Sicherheitsbehörden und verlangen Aufklärung

MOSKAU taz ■ Das Oberste Gericht in der russischen Kaukasusrepublik Nordossetien hat gestern mit der mehrtägigen Verlesung des Urteils im Prozess gegen den Geiselnehmer Nurpaschi Kulajew begonnen. Der Angeklagte gehörte zu einem Terrorkommando, das am 1. September 2004 in einer Schule in Beslan 1.300 Geiseln in seine Gewalt gebracht hatte. Bei der Befreiungsaktion durch russische Sicherheitskräfte zwei Tage später wurden 331 Menschen getötet.

Das Gericht folgte der Vorgabe der Staatsanwaltschaft und befand den 24-jährigen Tschetschenen in allen Punkten der Anklage für schuldig. Terrorismus, Geiselnahme, illegaler Waffenbesitz, Mord, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Trachten nach dem Leben von Mitarbeitern der Sicherheitsorgane werden ihm zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft, vertreten durch Russlands Vizegeneralstaatsanwalt Schepel, forderte die Todesstrafe. Der Tschetschene hatte in dem seit einem Jahr laufenden Prozess wiederholt seine Unschuld beteuert. Weder sei er bewaffnet gewesen noch habe er jemanden getötet, behauptete Kulajew.

Mit der Todesstrafe unterstreicht die Staatsanwaltschaft die Schwere des Verbrechens und hofft, die Hinterbliebenen der Opfer beschwichtigen zu können. Vollstreckt würde das Urteil wohl nicht, da Moskau mit Aufnahme in den Europarat ein Moratorium über die Todesstrafe verhängt hatte.

In ihrer Forderung nach harter Bestrafung stimmen Staatsanwaltschaft und Hinterbliebene noch überein. Dort hört die Gemeinsamkeit auf. Die Betroffenenorganisationen „Mütter Beslans“ und „Stimme Beslans“ erhoben schon zu Beginn der Ermittlungen schwere Vorwürfe gegen die Behörden. Statt das Verbrechen aufzuklären, versuche der Staat die Schuld der Sicherheitsorgane zu vertuschen.

Eine im September 2004 von Präsident Wladimir Putin eingesetzter Untersuchungsausschuss der Duma hat noch keine endgültigen Ergebnisse vorgelegt. Eine alternative Kommission, der Mitglieder des nordkaukasischen Parlaments angehören, legte Ende 2005 einen Bericht vor, der der Version der Staatsanwaltschaft in entscheidenden Punkten widerspricht.

Die trauernden Mütter verlangen die Todesstrafe, sind mit der eiligen Urteilsverkündung jedoch nicht einverstanden. „Vieles hat Kulajew noch nicht gesagt“, meinte eine Vertreterin der „Stimme Beslans“ gestern. Die Staatsanwaltschaft habe Interesse daran, den Prozess schnell zu Ende zu bringen, damit Gras über die Sache wachse. Die Frauen geben jedoch nicht nach. Sie wollen genau wissen, wie und warum ihre Kinder sterben mussten. So legt der alternative Untersuchungsbericht nahe, dass der blutige Ausgang erst durch die Inkompetenz von Sicherheitskräften verursacht wurde. Sie setzten Flammenwerfer und Panzer ein, obwohl sich die Geiseln noch in der Schule aufhielten. Für diese Version spricht auch, dass Sicherheitsstrukturen und Ermittler zunächst versuchten, Beweismittel verschwinden zu lassen.

Der Anwalt der Mütter, die als Nebenkläger auftreten, sagte der Zeitung Kommersant, die Ermittler des russischen Geheimdienstes hätten sehr schlechte Arbeit geleistet. Die Akten wimmelten von absurden Behauptungen, kruden Schlussfolgerungen und juristisch stümperhaft verfassten Dokumenten.

Der Eingabe der Mütter, den Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes Nikolai Patruschew und Innenminister Raschid Nurgalijew vorzuladen, gab das Gericht nicht statt. Sie wollen während der Geiselnahme in Beslan gewesen sein. Niemand hat sie gesehen und auch heute weiß die Öffentlichkeit nicht, womit sie sich beschäftigt haben. KLAUS-HELGE DONATH