Gemüse auf Rezept

In Genpflanzen könnten bald Arzneimittel stecken. Kritiker fürchten, dass die Wirkstoffe unkontrolliert im Essen landen

VON HANNA GERSMANN

„Mensch, iss mehr Gemüse“ – der Standardsatz soll eine neue Bedeutung bekommen: Lebensmittel sollen demnächst nicht nur Vitamine liefern, sondern auch herkömmliche Medikamente. Wer seinen Blutdruck oder den Zuckerspiegel senken muss, verspeist eine Kartoffel, einen Maiskolben oder eine Schale Reis – und schon ist alles gut. Schöne neue Welt? Die Gentechniker arbeiten jedenfalls daran.

Inge Broer zum Beispiel. Die Professorin für Agrarbiotechnologie an der Universität Rostock will die alte Pharmafabrik durch Arzneipflanzen auf dem Acker ersetzen. Geht alles nach ihrem Plan, sollen die genmanipulierten Gewächse ab Ende Mai auf einem Versuchsfeld in Groß Lüsewitz nahe Rostock wachsen. Eine Premiere.

Bislang haben Biotechnologen Pharmapflanzen nur in den USA, Kanada oder Frankreich ausgesetzt. „Auf hiesigen Feldern wurde bisher nicht mit der neuesten Generation von Genpflanzen experimentiert“, sagt Broer. Sie wird vom Bundesforschungsministerium gefördert.

Geerntet werden Impfstoffe

Ihr Team überträgt auf eine Kartoffel die Gene aus einem Cholera-Bakterium. Dasselbe machen die Forscher bei anderen Kartoffeln auch mit einem Virus, der die Chinaseuche auslöst. Das ist eine Tierkrankheit, an der Kaninchen sterben. Erhoffte Ernte in einigen Jahren: Impfstoffe, die das Tier futtern und der Mensch essen kann.

„Derzeit müssen Impfstoffe aufwändig im Labor produziert werden“, sagt Broer. Beispiel Chinaseuche: Die Pharmazeuten infizieren ein Kaninchen mit dem Virus. Dieser vermehrt sich in wenigen Tage in der Leber. Das Tier wird getötet, die Viren werden extrahiert. Mit ihnen können nun andere Tiere behandelt werden. „Für den Impfstoff müssen bisher viele Kaninchen sterben“, sagt Broer – und vermittelt: Kommt der Impfstoff vom Feld, wird im Labor Leid gemindert. Mit Gentechnik ist alles machbar.

Wissenschaftler weltweit arbeiten an der dritten und vierten Generation von Genpflanzen. So fördert die EU-Kommission mit 12 Millionen Euro das Pharma Planta Consortium. Dazu gehören 39 Institutionen aus Europa und Südafrika, die laut ihrer Homepage Pflanzen gegen „Aids, Diabetes, Tollwut und Tuberkulose“ entwickeln wollen.

Und fünfzehn Genpflanzen-Medikamente werden bereits in klinischen Studien getestet. Das geht aus einem 300 Seiten starken Bericht zur Entwicklung genveränderter Pflanzen hervor, den das Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) vor kurzem geschrieben hat. Das TAB ist eine wissenschaftliche Einrichtung des Bundestages.

Autor Arnold Sauter sagt: „Wir waren selbst überrascht, wie weit die Entwicklung ist.“ Voraussichtlich werde bald die erste Arznei vom Genfeld zugelassen: Französische Wissenschaftler extrahieren aus einem Genmais ein Präparat für Patienten, die an der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose leiden. Essbar, wie es die Pharmakartoffel sein soll, ist es allerdings nicht.

Der Erfolg ist allerdings mager – zumindest dafür, dass Molekularbiologen die heilenden Lebensmittel seit Jahren ankündigen. Vom nahrhaften Reis oder Mais, der gegen Malaria oder Tuberkulose schützt, habe sich noch gar nichts bewahrheitet, sagt Ulla Burchardt, SPD-Vorsitzende des Forschungsausschusses. „Die wirtschaftlichen Potenziale werden überschätzt.“ Für Greenpeace-Experte Henning Strodthoff sind die Heilsversprechen ein „billiger Werbetrick“. Wer traue sich schon, Genpflanzen abzulehnen, die in armen Ländern die Kindersterblichkeit verringern sollen. Die Biotechniker wollten so nur die Abneigung der Bürger gegen genverändertes Essen kippen.

Ein Problem sei nämlich nicht lösbar: „Die Dosis lässt sich nicht planen“, sagt Strodthoff. Die Konzentration des Wirkstoffs variiere von Zelle zu Zelle, von Pflanze zu Pflanze, von Wetter zu Wetter. Das hätten alle bisherigen Tests gezeigt.

Strodthoff prophezeit: „Eine Impfkartoffel mit vager Pillenration werden die Arzneibehörden nie genehmigen.“ Er fordert, dass Broers Experiment sofort gestoppt wird – wie viele andere Kritiker auch. „Wir prüfen derzeit gut 1.800 Einwände, die wir gegen diesen Versuch erhalten haben“, erzählt Jochen Heimberg, der Sprecher des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL). Die Bonner Behörde, die CSU-Bundesagrarminister Horst Seehofer untersteht, muss erst noch ihre Zustimmung geben. Vorher darf Forscherin Broer die Cholera-Kartoffel nicht pflanzen.

Die Kritiker sorgen sich, dass die Impfstoffe im Essen landen können. „Cholera-Gene und Pharmazeutika haben nichts in Nahrungspflanzen zu suchen“, sagt etwa Andreas Bauer vom Umweltinstitut München. Denn Pflanzen breiten sich aus. Broer will davon zwar nichts wissen. „Kartoffeln lassen sich kontrollieren“, sagt sie. Denn das Gemüse vermehre sich „vegetativ“. Es klont sich, indem es sich teilt und neue Knollen produziert. 100-prozentige Sicherheit gibt es aber nicht.

Auch eine Kartoffel hat Pollen

Vögel können Blätter verschleppen, Menschen das Grün ausrupfen. Und auch eine Kartoffel hat Pollen, die fliegen können. So warnt auch Hartmut Vogtmann, Präsident des Bundesamtes für Naturschutz: „Wir wissen viel zu wenig über die ungehinderte Auskreuzung.“ Die Pflanzen gehörten allenfalls ins „Gewächshaus mit hohem Sicherheitsstandard“.

Zwar ist nicht bewiesen, dass die vagabundierende Erbsubstanz den Menschen krank macht – das Gegenteil aber auch nicht. Und einmal wild gewordene Gene lassen sich nicht zurückholen. Das zeigt die Erfahrung.

Die texanische Biotech-Firma ProdiGene musste in den USA vor vier Jahren 2,7 Millionen Dollar Strafe zahlen. Denn: Reste von einem Mais mit Schweine-Impfstoff hatten ein Sojabohnenfeld verunreinigt. Versehentlich wurden die Früchte dann mit anderen Sojachargen vermischt – und verkauft. Der Zwischenfall wurde berühmt.

Er beunruhigte selbst die großen Lebensmittelkonzerne, die sonst nicht als Kritiker der Biotechnologen gelten. Sie wollen Gentomaten, die länger haltbar sein sollen. Doch vor der Pillen-Kartoffel schrecken auch sie zurück. „Wir sind gegen Pharmapflanzen, solange man nicht ganz sicher weiß, was passieren wird“, heißt es bei einem deutschen Unternehmen. Genannt werden will es allerdings nicht.

Nur: Darf Forschung, die Krankheiten lindern will, verhindert werden? „Die Wissenschaftler haben eine Alternative“, meint Hans-Josef Fell, der Technologie-Experte der Grünen. Noch längst seien nicht alle Pflanzen entdeckt, die natürlich heilen: Wirkstoffe zum Beispiel, die im Regenwald wachsen – „ganz ohne Risiko“.