Die Folgen einer Insel

Bühnen mag Jens-Eric Siemssen nicht. Dabei ist er Regisseur. Mit der Gruppe „Das letzte Kleinod“ erschließt er dem Publikum Räume. Ab heute zugänglich: Die Marinefestung Langlütjen II in der Weser

von Benno Schirrmeister

Nicht an den Rückweg denken. Mit dem Schicksal hadern hat noch Niemandem genützt. Entspannen, entspannen, entspannen. Die Sonne genießen. Ah. Salzige Luft. Eine Seite im Buch. Oder einen Artikel in der ollen Zeitung, mein Gott: sehr ollen Zeitung. Warum ist die denn noch in der Tasche? Oder noch mal nach dem Kutter schauen. Ob’s jetzt geht. Es geht nicht. Der Kutter ist unerreichbar. Wohin das Schlauchboot fährt, entscheiden nur die Strömung und die gischtig an der Steindossierung leckenden Wellen.

Am Morgen war dieser glitschige Steilhang aus Granitquadern noch die größte Hürde gewesen. Vom Boot dorthin war leicht: Klar, wackeln tut’s immer, aber Jens-Erwin Siemssen, Regisseur, Autor und Gründer des Theaterprojekts „Das letzte Kleinod“, ist auch ein guter Ruderer. Jeden einzeln hat er vom Ankerplatz zur Uferbefestigung gepaddelt, das heißt, die letzten sogar durchs trockenfallende Watt geschoben, bis sie von der gelben Nussschale direkt den Fuß in den Schlamm vor Langlütjen Zwo setzen konnten. Um 7.15 Uhr war das. Wenig später hat Siemssen dann das aktuelle Vorhaben erläutert. Dabei hat er geschaut, wie man schaut, wenn man direkt an der Küste steht – die blauen Augen leicht verengt, den Blick in unbestimmte Ferne – und den Satz gesagt: „Die Insel hat Konsequenzen“. Die direkteste Folge ist: Ohne Boot kommt man nicht weg.

Das Stück, das Siemssen und sein Team hier entwickeln, heißt „Langlütjen II“, genau wie die künstliche Insel bei Bremerhaven. Die ist 1880 als Bollwerk in den Schlick der Wesermündung geklotzt worden. Ein Ungeheuer mit leprösen Backsteinkasematten und, an der Nordseite, Platz für Mega-Kruppstahlkanonen. Teilweise sind die Gewölbegänge eingestürzt, kaum noch hält der Mörtel an den Ziegeln. Auf der Ostseite reckt sich süß duftend ein Apfelbaum Richtung Container-Hafen, üppig blühend, als wollte er den kaiserlichen Größenwahn verspotten. Ende Januar hat der Bremer Unternehmer Jens Torsten Bausch die 17.000 Quadratmeter vom Staat gekauft. Dem Vernehmen nach will er den Bau sanieren. Na da viel Spaß mit.

Das Stück „Langlütjen II“ erhält gerade den Feinschliff. Es hat auch einen Untertitel. Der lautet: „Inszenierung einer Marinefestung“. Heute ist Premiere. Man hat ja so seine begründeten Vorbehalte gegen Festungsinszenierungen. Festungsinszenierungen, das heißt Riefenstahlgewitter aus Lichtkanonen, Gigawattboxen, benebelnde Bombasto-Klänge. Das Mindeste ist Richard Straussens Blechzarathustra, brööm, brööm, bröömm, tattáaaaaaaaaaah!, und am Ende wird alles vom großen Feuerwerk überschlämmt. Wer das erwartet, würde von „Das letzte Kleinod“ übel enttäuscht. „Wir erschließen dem Publikum Räume“, sagt Siemssen, und meint das so unspektakulär wie’s klingt. Nichts wird übertüncht, nicht einmal die Neonazischmierereien im Gewölbe. Es werden nur, szenisch, Markierungen angebracht. Die Mittel sind: Die Körper, die Stimmen, das Gemäuer, die Fundstücke, okay, und ein paar Lampen. Der knalligste Effekt ist, dass die Schwedin Åsa Odemark Erinnerungen ans Brennholzsammeln im Jahr 1945 nicht spricht, sondern singt, unter einer Kuppel, in der eine Gaslaterne leuchtet und rauscht. Die wuchtigste Szene spielt im stillen Dreivierteldunkel, klar, mit Sicherheitsbeleuchtung, aber nicht viel mehr, solange das Tageslicht reicht: „Damals ging das Gerücht, wer nach Langlütjen geht, kommt nicht zurück“ beginnt sie. Der Satz stammt von einem Lagerinsassen. Von 1933 bis 1934 war die Insel ein KZ.

„Langlütjen II“ ist aufwühlend, für Zuschauer ebenso wie für Beamtenseelen: Interesse zeigten Bauämter, die Denkmalpflege, das Wasserschutzwesen, die Umweltbehörde. Es gab Streit mit Sachbearbeitern, die den Buchstaben und den Geist der Gesetze nicht zusammendenken können. Beim ersten Gang durch die Brennnesselwildnis erzählt Siemssen wie das war, wie ärgerlich und wie aufreibend. Dann hält er inne und sagt: „Stopp“. Hebt die Arme, holt tief Luft, schließt die Augen: „Jetzt will ich mal etwas ganz anderes sagen“. Macht die Augen wieder auf, stemmt die Hände in die Hüften und berichtet, wie das Schifffahrtsamt die Rinne von der Seebäderkaje in Bremerhaven bis zur Insel mit Besen abgesteckt hat, um Paragraph fünf der Seeschifffahrtsstraßenordnung genüge zu tun, „einfach so“, aus Gefälligkeit: „Während der ganzen Produktion sind wir auch bei den Behörden immer wieder auf kompetente Leute gestoßen, die uns unterstützt haben.“

Ogottogottogott, hat sich da jetzt auch noch der Kutter losgerissen…?! Nee. Die Wellen spielen nur. Das Meer, das hier beginnt, hat seine eigene Dramatik. Entspannen. Ah, die Luft. Sonne? Wolken sind auch hübsch. Es ist ja eigentlich ein Bonus, wenn man so will, der den zahlenden Zuschauern vorenthalten bleibt. Für die wird das Abenteuerliche weniger deutlich sein: Ein Schwimmponton wird den Zugang zur Insel ermöglichen, für die Überfahrt liegt der Ausflugsdampfer Wega II bereit. Das ist Teil der Inszenierung, der Weg ist das Spiel, die Logistikfrage Teil des Kleinod-Konzepts: Ihr Hauptquartier hat die Truppe im stillgelegten Bahnhof Geestenseth zwischen Hamburg und Bremerhaven, ihr Labor hat sie in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon. Siemssen sitzt in braunen Latzhosen am Tisch im Esszelt, wie ein Ingenieur. Die Spielerinnen und Spieler haben das Morgen-Yoga beendet. Aus der Ruine tönen Stimmbildungsübungen, Vokalisen, sinnlose Gesänge, aber auf die Konzentration bei der Arbeitsbesprechung färbt das nicht ab. Klar, präzise und knapp sind die Anweisungen an die Praktikantinnen. Es geht ums Timing. Im Anschluss wird der erste Komplettdurchlauf geprobt. Dabei spielt die Uhr eine unsichtbare Hauptrolle: Die maximal 120 Zuschauer sollen, in drei Gruppen, binnen 40 Minuten alle neun Szenen passiert haben, so dass die fünf Akteure jedes Bild dreimal hintereinander spielen müssen. Den Zeitrahmen gibt die Tide vor, weil die Schiffe bei Hochwasser fahren müssen. Alles ist auf die Gegebenheiten einzustellen, eine knifflige Rechenaufgabe mit mehreren Unbekannten. Wieviel wird davon noch spürbar sein durch die gepolsterten Sitzgelegenheiten der Wega II? Am meisten wohl bei der ersten Samstagsvorstellung. Für die sind sogar noch Karten zu haben. Abfahrt Seebäderkaje ist um 4.50 Uhr. Pünktlich.

Die Sonne. Genießen. Entspann doch. Ist der Geruch nicht herrlich. Zuschauen, was die Kleinod-Crew mit der Pause anfängt. Die drehen ein Video. Arbeitstitel: Die Blessuren. Kameraführung: Yvonne van den Akker (Niederlande). Weibliche Hauptrolle: Die Schramme an Birgit Wiegers rechtem Arm, die einfühlsam abgefahren wird. Cut und Zoom auf den Gegenspieler: Der kreisrunde blaue Fleck mit blutrotem Halbmond. Er sitzt auf Jochen Stechmanns Oberschenkel. „Wie hast du den denn so schön hinbekommen?“ Oohs! und Ahhs!, mit deutlich übertriebener Anteilnahme. „Und jetzt darfst du die Hose wieder hochziehen“, sagt Birgit.

Der Inhalt des Stücks ist wirklich Langlütjen selbst – die Insel, das Fort und ihre Erzählungen. Siemssen hat Zeitzeugen gefunden und befragt. Menschen, die einmal mit Langlütjen II in Berührung gekommen waren. Die Besatzung. Einheimische, die von Bremerhaven aus die Insel angesteuert haben. Obwohl das Betreten immer verboten war.

Stechmann ist der Sprengmeister. Das heißt: Er spricht dort, wo die Kanonen installiert waren, weißbehemdet und beschlipst, die Erinnerung des Mannes, der mit der Demontage betraut war. „Löcher bohren? Das hat der liebe Herrgott verboten!“, sagt Stechmann als Sprengmeister mit einem Lachen in der Stimme, „zu hart“, und macht Klimmzüge im dachlosen Rund des Geschützturms, die Anstrengung, das Hemd rutscht aus der Hose. Er geht, eilt, rennt dann im Kreis auf dem grasbewachsenen Sockel, „wir haben es versucht“, er wird schneller, die Krawatte flattert, Steine bröckeln, nächste Runde. Es ist ein sehr körperbetontes Theater, bis hin zur Akrobatik, wenn sich van den Akker maskiert und mit Maschinenpistole im Anschlag vom fiktiven Hubschrauber durch eine Deckenöffnung am Seil herablässt auf einen Schutthaufen in den Katakomben. Die Trümmer haben sie per Hand aufgelesen, die Wege durch die unterirdischen Gänge freigemacht. „Jens hat uns hier mit verbundenen Augen durchgeführt“, hatte Birgit Wiegers erzählt, auf einem Klappstuhl hockend, den Becher Morgenkaffee zwischen den Händen. Ein anderer Schritt der Annäherung: Im Matsch buddeln. Die Fundstücke: Tintenfässer, Kupfermünzen, eine Flüstertüte. Sie sind Requisiten geworden.

Den dokumentarischen Ansatz verfolgt Siemssen schon lange. Vor 15 Jahren hat er das Kleinod gegründet, und was er macht, ist alles andere als unverbindlich: Im vergangenen Jahr hat er mit „Mkono wa Damu“ die Kolonialisierung Ostafrikas thematisiert – und an vorbelasteten Plätzen in Cuxhaven, Bagamoyo und auf Sansibar inszeniert. Eine andere Produktion basierte auf Aufzeichnungen des Polarforschers Alfred Wegener. „Eismitte“ hieß sie, Spielort war ein Kühlhaus, Aufführungstemperatatur: Minus 24 Grad. „Wir wollen nicht auf die Bühne“, sagt Siemssen. „Das gibt mir nichts.“ Er sagt auch Sätze wie: Ich finde es gut, wenn sich ein Spieler Frostbeulen holt oder in Afrika einen Hitzschlag, oder wenn man plötzlich nicht mehr von der Insel kommt. Sadismus? Ach was. Siemssen ist ein Obersympath. Und van den Akeren und Wiegers gehören schon seit Jahren zum Team. Erstmals dabei sind Claas Würfel, Stechmann und Odemark. Sie wirken aber auch nicht verschreckt von zwei Wochen Proben fürs Extremtheater.

Der Scheitelpunkt der Flut ist überschritten, das Wasser müsste sich allmählich zurückziehen, aber es scheint, als suchten die Wellen heute nach einer Lücke im Naturgesetz. Mike, der Fotograf, der Bilder von den Szenen gemacht hat, zieht mittlerweile die Wattwanderung als Lösung des Rückkehrproblems in Betracht. Dagegen spricht: Das Schuhwerk. Und die Uhrzeit. Der Weg nach Tettens wird erst gegen 21.00 Uhr frei sein. Und Tettens – das ist keine Lösung. Vor allem nicht, wenn das Auto in Bremerhaven parkt. Wahrscheinlich klemmt ein Ordnungshüter stündlich einen weiteren Zettel hinter den Scheibenwischer. Daheim geht die Ehe zu Bruch. Die Kinder beginnen, sich mit dem Halbwaisenstatus anzufreunden. Muss man Langlütjen II überhaupt inszenieren?

Es tut sich was. Plötzlich geht’s doch, nun aber ein bisschen plötzlich! Der Seegang bleibt, aber Wiegers hat sich mit einem Tau zum Kutter durchgekämpft. Eine Seilfähre wird improvisiert. Schnell, das Wasser darf nicht viel weiter sinken, schnellschnellschnell, als ginge es um mehr, die Wellen schlagen in den Plaste-Kahn. Hektisch kopfüber die Reeling schiffeinwärts nehmen: Das Meer hat seine eigene Komik. Alle im Boot. Abfahrt, Gelächter zum Abschied, das leicht hysterisch klingt. Vielleicht weil sich in ihm Erleichterung mischt mit unbestimmter Enttäuschung.

Premiere: Heute, 16 Uhr (ausverkauft). Bis 28. 5. täglich mit wechselndem Beginn. Sa: 4.50 und 17 Uhr, Seebäderkaje Bremerhaven; Wattwanderung von Tettens, 10 Uhr. So: 6 und 18 Uhr ab Bremerhaven; Wanderung ab Tettens 10.30 Uhr. Infos: www.das-letzte-kleinod.de,☎ 04749/10 25 64